: Wer knuspert an meinem Häuschen?
NASCHWERK Mutter erklärt, wie sie das Traumhaus der Kindheit gebaut hat. Es ist aus Lebkuchen
■ Teig: 375 g Honig (oder Kunsthonig), 100 g Schmalz, 50 g Zucker, 2 Teelöffel gestoßener Zimt, ein halber Teelöffel gestoßene Nelken, eineinhalb Teelöffel Kardamom, abgeriebene Schale von einer Zitrone, Salz, 1 Ei, 125 g Mondamin, 500 g Mehl, 1 Päckchen Backpulver.
■ Guss: 400 Gramm Puderzucker, 2 Eiweiß. Die Masse muss abgedeckt sein, wenn sie gerade nicht verarbeitet wird.
■ Zubereitung: Honig, Schmalz und Zucker erwärmen, dann abkühlen lassen. Gewürze und Ei darunter rühren. Das mit Mondamin und Backpulver verrührte Mehl darüber sieben und alles zu einem Teig verkneten. Diesen mehrere Stunden kühl ruhen lassen.
■ Architektur: Pappvorlagen nach den angegebenen Größenvorgaben anfertigen, auf den ausgerollten Teig legen und je zweimal ausschneiden, auf ein Backblech legen. An den Seitenwänden kleine Fenster herausschneiden, an der Vorderfront eine Tür, an der Hinterwand eine Öffnung für die Beleuchtung. Die Öffnungen werden von innen mit roten Gelatineplatten beklebt.
■ Wichtig: Alles steht und fällt mit der Stabilität der Wände. Mit einer Vorder- und einer Seitenwand beginnen und immer gut abstützen – zum Beispiel mit Glasflaschen. Der Zuckerbeton braucht Zeit zum Aushärten!
VON MARTIN REICHERT
Das Glöckchen läutete, wir gingen ins Wohnzimmer, und alles war Glanz. Nachdem wir drei Kinder den ganzen Nachmittag in unseren Zimmern gewartet hatten, war endlich Bescherung. Die Wohnzimmertür öffnete sich, hinten rechts in der Ecke stand der Weihnachtsbaum, schwer behangen mit Kerzen, elektrischen und solchen aus Wachs. Mit Lametta und bunten Christbaumkugeln – einige von ihnen hatten „unter den Trümmern gelegen“, wie meine Mutter, Jahrgang 1940, immer wieder erzählte. Und überlebt, so wie sie.
Und gleich neben dem Christbaum stand wie immer das kleine „Hexenhäuschen“. Ganz und gar aus Lebkuchen war es bedeckt, nein: überladen mit Schokoladenziegeln und Bonbons, mit Marzipankugeln und allerlei Naschwerk. Es hatte Türen und Fenster, von innen war es erleuchtet – und drumherum war ein Zaun aus Toblerone. Das Christkind hatte es gebracht, so wie die Geschenke aus dem Erdölzeitalter: Matchbox-Autos, Legosteine und Playmobil.
Zwischen meinen Brüdern und mir bestand der Konsens, dass wir das Häuschen zunächst von der Rückseite abknusperten, damit seine Schönheit möglichst lange dauert. Und als Jüngster war ich schließlich der Letzte, der irgendwann erfuhr, dass es das Christkind wohl doch nicht gibt. Und dass es eigentlich immer meine Mutter gewesen war, die das Haus gebacken und hergerichtet hatte – spät abends, wenn wir alle schon im Bett waren, hatte sie sich ans Werk gemacht und das Ergebnis gut vor uns versteckt, im Keller. Und so hielt sie es auch weiter, obwohl wir alle immer größer wurden. Stets behielt sie die Regie des Festes unter ihrer Kontrolle, alles musste perfekt sein. Alles sollte im Glanz erstrahlen.
Aber wie genau hat sie das angestellt, das mit dem „Hexenhäuschen“? Nun, da ich alt genug bin, die Entzauberung der Welt einigermaßen zu verkraften, erklärt sie es mir, am zweiten Adventswochenende, zu Hause, in der Heimat. Den Lebkuchenteig aus Honig, Schmalz und Zucker hat sie schon am Tag vor meiner Ankunft angerührt, damit er kühl genug ist, stabile Bauelemente aus dem etwa einen halben Zentimeter dick ausgerollten Teig zu schneiden. Die Schablonen aus Pappe hat sie schon benutzt, als ich ein kleiner Junge war – und ich bekomme auch den weltlichen Ursprung des Wunderwerks zu Gesicht. Ein vergilbtes Rezept aus einem Kalender der „Hauptberatungsstelle für Elektrizitätsanwendung e. V.“, Jahrgang 1961. Slogan: „Strom kommt sowieso ins Haus – nutz das aus!“
Im Jahr 1961 wurde die Mauer gebaut, Gagarin flog ins All, und der Strom kam einfach aus der Steckdose. Ein Jahr später saßen meine Eltern auf dem Sofa und tranken Sekt, weil sie dachten, die Welt geht gleich unter: Kubakrise. Zu diesem Zeitpunkt wäre auch noch niemand auf die Idee gekommen, dass das Knusperhäuschen mit seinem Spitzdach irgendwie an den NS-Siedlungsbau erinnern könnte, geschweige denn dachte man an Niedrigenergie-Bungalows oder zuckerfreie Kinderernährung.
Die im E-Herd 20 Minuten gebackenen Lebkuchen-Bauelemente müssen über Nacht ruhen, doch am nächsten Tag schon geht es los. Rührt man Puderzucker und Eiweiß zusammen, entsteht eine Paste, die nach der Trocknung so hart wird wie Beton. Meine Mutter streicht die Paste auf eine Sperrholzplatte, die mindestens so alt ist wie ich, und richtet die Hinterfront auf, fügt dann ein Seitenteil daran, stabilisiert alles mit Flaschen. Man muss sehr vorsichtig sein, ein Stoß an den Tisch, und alles fällt um, weil der Beton noch nicht hart genug ist. Steht das Ensemble, muss es noch einmal über Nacht ruhen, erst am nächsten Tag kann man versuchen, die Dachplatten aufzusetzen.
Wir schaffen es, gemeinsam. Die Dachplatten werden unten mit kleinen Tupperdosen abgestützt – es steht! Wir sitzen erleichtert am Esstisch, mein Vater sieht fern, Nachrichten. So muss es früher schon gewesen sein, wenn meine Mutter in der Spätschicht am Glanz arbeitete. Nun diskutieren wir die Beklebung: Milka-Herzen und Gold-Euros möglichst in Reihen für das Dach, man befestigt alles mit ganz wenig Zuckerbeton, sonst bekommt man die Süßigkeiten nicht mehr ab. Ganz viele Gummi-Dinosaurier zieren die Front, denn das Haus ist für meinen Neffen bestimmt. Sechs Jahre ist er alt und schaut ständig „Ice Age“ – er hat daher schon jetzt ein besseres Klimabewusstsein als ich.
Nun noch die Feinheiten. Wenn man eine etwas größere Menge Paste an den Giebel und die Fenster streicht, dann bilden sich kleine „Eiszapfen“. An der Rückseite haben wir eine Öffnung ausgeschnitten, durch die wir ein kleines LED-Flackerlicht schieben. Durch die schon auf dem ausgerollten Teig ausgeschnittenen Tür- und Fensteröffnungen, die wir von innen mit roten Gelatineplatten abgedichtet haben, leuchtet es nun. Wir basteln eine Leiter aus Schokoladensticks, ein Bäumchen aus Honigkuchen. Und dann die Schneekatastrophe: Puderzucker über alles!
Alles sieht aus wie früher. Wie zu Hause. Auch wenn die kleine Hexe aus Plastik verloren gegangen ist, die immer vor dem Türchen stand. Und die schwarze Katze aus Pappmaché. Die habe ich nämlich aus Versehen aufgegessen, als ich vier Jahre alt war. Ich habe es überlebt.