: Machtwechsel ohne Neuwahl
Brasilien Für zunächst 180 Tage ist Präsidentin Dilma Rousseff vom Amt suspendiert. Ihr Nachfolger, Michel Temer, steht politisch vor ähnlichen Problemen wie sie zuvor
Aus Rio de Janeiro Andreas Behn
Machtwechsel in Brasilien: Nach fast 14 Regierungsjahren kehrt die Arbeiterpartei PT zurück auf die Oppositionsbank. Präsidentin Dilma Rousseff, die schon während der über 20-stündigen Senatsdebatte ihren Schreibtisch im Regierungspalast räumte, ist vorläufig vom Amt suspendiert. Ihr bisheriger Vize, Michel Temer, kündigte derweil schon eine erste Regierungserklärung an.
Die Abstimmung fiel erwartet deutlich aus: 55 von 77 Senatoren stimmten für die formelle Aufnahme des Amtsenthebungsverfahrens, weit mehr als die notwendige einfache Mehrheit. Anders als bei der zirkusreifen Parlamentsabstimmung, bei der Mitte April viele Abgeordnete ihre Stimme gegen Rousseff der Familie, den Ehepartnern oder Gott widmeten, kamen im Oberhaus Argumente zur Sprache, wenn auch keine neuen.
Die Fronten sind verhärtet und eindeutig: Die bisherige Regierung und ihre Juristen sagen, das Verfahren sei ein Putsch, ein undemokratischer Machtwechsel, weil die monierten Haushaltstricks kein Verbrechen seien. Die bisherige Opposition und ihre Juristen sagen, es waren Verbrechen, und deswegen sei das Verfahren rechtens. Seit Dezember ist Brasilien wegen des Verfahrens politisch nahezu gelähmt.
Als Gast im Senat und letzter Redner der Debatte verteidigte Regierungsanwalt José Eduardo Cardoso die Präsidentin noch einmal gegen alle Vorwürfe – umsonst. Seine Heimat erklärte er jetzt zur „größten Bananenrepublik der Welt“, geführt von einer illegalen Regierung. „Eines Tages wird die Geschichte über die heutige Abstimmung urteilen, und ich werde meinen Kindern sagen können, dass ich mich für die Verteidigung der Demokratie und des Rechtsstaats eingesetzt habe“, schloss Cardoso sein Statement.
In den kommenden sechs Monaten wird der Senat unter Leitung des Obersten Gerichts die Vorwürfe erneut prüfen. Danach ist eine Zweidrittelmehrheit der Senatoren notwendig, um in der allerletzten Abstimmung die erste Frau im höchsten Staatsamt Brasiliens endgültig aus dem Amt zu entfernen.
Brasiliens neuen Präsidenten Michel Temer plagen andere Sorgen. Aus Angst vor einem Machtvakuum kündigte er an, noch am Donnerstag die ersten Minister zu ernennen. Die anschließende Regierungsansprache soll lokalen Presseberichten zufolge vor allem zwei Botschaften enthalten: Nein, die Sozialprogramme werden nicht eingestampft. Und ja, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, ist es notwendig, harte Maßnahmen zu ergreifen.
Bei der Regierungsbildung steht Temer vor dem gleichen Problem wie Rousseff und Lula vor ihm. Alle Parteien seiner Koalition, die aus der ehemaligen bürgerlichen Opposition und Überläufern – auch seine PMDB kehrte Rousseff erst im März den Rücken – besteht, haben viele Personalwünsche. Um dem entgegenzukommen, verzichtete Temer bereits auf die angekündigte Fachleute-Regierung und verteilt die einflussreichen Regierungsposten nach Parteienproporz. Auch ist fraglich, ob es ihm wirklich gelingen wird, einige der 32 Ministerien einzusparen.
Das größte Problem des 75-jährigen Juristen ist aber seine mangelnde Popularität. Er ist so unbeliebt wie Rousseff, und eine große Mehrheit plädiert gar dafür, dass er wie sie abgesetzt werden sollte. Nicht nur, weil er lange Zeit ihre Politik mittrug, sondern auch, weil er die alte politische Garde repräsentiert, die den meisten Brasilianern seit Langem suspekt ist. Das Misstrauen geht so weit, dass befürchtet wird, die Korruptionsermittlungen könnten unter Temer behindert werden. Denn seine PMDB und einige Koalitionsparteien stehen ähnlich wie die PT im Verdacht, systematisch öffentliches Geld in die eigenen Taschen umgeleitet zu haben.
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