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Archiv-Artikel

„Gott würfelt wirklich“

Er ist Mister Universum. Sein Körper ist mittlerweile vollständig gelähmt, nur die rechte Wange kann der Astrophysiker Stephen Hawking noch bewegen. An der FU Berlin wird er wie ein Popstar gefeiert, als er einen Vortrag über das Weltall hält

von Johannes Gernert

Vor gut einer Woche gab Robbie Williams ein Konzert in Berlin. Jetzt ist Stephen Hawking da und hält eine Vorlesung an der Freien Universität. Als er in seinem Rollstuhl aus dem Hörsaal geschoben wird, kreischen und schreien die Leute. Sie klatschen wie auf einem Rockkonzert, halten Handys hoch und Digitalkameras und rennen hinter dem Rollstuhl her. Und Stephen Hawking sagt: „Yes“.

Es ist ein schnarrendes, etwas zischendes, computergeneriertes „Yes“. Fünf-, sechsmal sagt sein Sprachcomputer das auf dem Weg zu dem Rote-Kreuz-Van vor dem Universitätsgebäude, der ihn von hier wegbringt. Vermutlich meint Stephen Hawking eigentlich „No“. Oder etwas Komplizierteres. Aber wenn die Blitzlichter gewittern, macht sich sein Computer selbstständig.

Dann ist selbst die rechte Wange machtlos. Dieser letzte Teil seines Körpers, den er noch irgendwie bewegen kann und dessen Bewegungen von einem Sensor in der Brille erfasst werden. Neben den Augen die einzig verbliebene Möglichkeit sich mitzuteilen. „Nur noch ein Geist“, sagt ein älterer Mann im Hinausgehen, „ein Geist, der da arbeitet und sich ausdrücken kann mit Hilfe der modernen Technik.“ Sehr salbungsvoll sinnierend seufzt er das hin. „Schon unvorstellbar.“

Um vier Uhr nachmittags soll es losgehen. Eine Stunde vorher ist der Hörsaal 1B fast voll. Hawking ist Physiker an der Universität Cambridge. Viele nennen ihn im gleichen Atemzug mit Newton und Einstein. Er ist Bestseller-Autor. Seit Jahren leidet er an amyotropher Lateralsklerose (ALS). Mit 63 Jahren ist er unglaublich alt für einen derart Muskelkranken. Er wird nebenan im Hörsaal 1A lesen. Dort ist Einlass nur mit Einladung. Titel des Vortrags: „The Origin of the Universe“. Im Hörsaal 1B gibt es eine Videoübertragung. 1A ist vor allem für Professoren und Presse, 1B für Studenten.

Im überfüllten Hörsaal 1A fangen um 16.11 Uhr die Kameras an zu blitzen. „Klick, klick, klick“ ist zu hören und lärmender Applaus. Stephen Hawking wird hereingefahren. Nach Minuten endet der Applaus langsam. Es wird ruhiger. Murmeln. Dann Stille. Man fährt Stephen Hawking wieder raus. Der Computer müsse vorbereitet werden.

Wenig später blitzen die Kameras erneut. Diesmal kommt nicht Stephen Hawking, sondern Sabine Christiansen. Zwei Streicher von der Deutschen Oper musizieren. Dieter Lenzen, der FU-Präsident, und Erwin Sedlmayer, TU-Professor für Astronomie und Astrophysik, begrüßen Stephen Hawking und stellen ihn vor. Sedlmayer verwendet viele Adjektive: „extraordinary, unique, revolutionary, most spectacular“. Er zählt Hawkings Forschungsfelder, seine Einsichten, Verdienste und Preise auf – Allgemeine Relativität, Quantentheorie, Thermodynamik.

Hawking ist mittlerweile wieder da und sitzt in der ersten Reihe. Etwa einen Meter vor seinem Gesicht ist ein kleiner Computerschirm angebracht, über den ein grüner Balken huscht. Auf dem Schirm stehen Worte wie „löschen“, „ja“, „nein“ und die Buchstaben des Alphabets.

Als er seinen Vortrag schließlich beginnen will, sagt er einmal „Yes“ und dann „No“. Eigentlich klingt dieses „No“ so neutral wie ein Computer nur klingen kann, aber wenn man den bewegungslosen Körper sieht, der es mit dem Zucken seiner rechten Wange auslöst, dann hört es sich an wie ein Hilferuf. Sein Assistent gibt Anweisungen: Die Fotografen müssen verscheucht werden, denn die Blitze bringen den Computer durcheinander.

„We’re sorry, Stephen“, sagt ein FU-Offizieller und beugt sich vor Hawkings Gesicht. Es ist gar nicht so einfach, einer Horde blitzlichternder Fotografen beizubringen, dass sie mit ihren Geräten einen beinah ganzkörpergelähmten Menschen gewissermaßen den Mund zuhalten oder, mindestens genauso schlimm, ihn dazu zwingen, Sachen zu sagen, die er vielleicht gar nicht sagen will.

Irgendwann kann es doch losgehen. Auf der Leinwand hinter Stephen Hawking erscheint ein Smiley mit Merkel’schen Mundwinkeln. Für einen Augenblick könnte man meinen, er drückt sich so aus: Ich bin traurig. Aber das Comic-Gesicht dient nur der Illustration seiner ersten Sätze. Eigentlich ist es eher ein Witz.

Er scherzt immer wieder während seines Vortrags, den er satzweise auf seinem Computer abgespeichert hat. Nach jedem Satz entsteht eine kurze Pause von wenigen Sekunden. Seine Lippe hebt sich. Man sieht ein bisschen mehr von seinen Zähnen. Es piept dreimal, ein kurzes Ladegeräusch, dann ist der nächste Satz zu hören.

Der Assistent steuert die Präsentation auf der Leinwand hinter Hawking. Während der Physikprofessor Theorien zur Entstehung und Entwicklung des Universums, zum Verhältnis von Raum und Zeit, referiert und kommentiert, erscheinen auf der Leinwand die Köpfe, in denen diese Theorien einmal entstanden sind. Kant, Einstein, Hubble.

Auf einer Kosmologiekonferenz im Vatikan, erzählt Hawking, habe Papst Johannes Paul II. gesagt, man könne ruhig das Universum untersuchen – nach seiner Entstehung. Mit der Entstehung selbst aber, solle man sich besser nicht beschäftigen. „Ich war froh, dass er nicht wusste, dass ich auf der Konferenz einen Vortrag darüber gehalten hatte, wie das Universum entstanden sein könnte. Der Gedanke, ich könnte wie einst Galileo der Inquisition übergeben werden, gefiel mir nämlich gar nicht.“ Hinter ihm ein Bild: Stephen Hawking hinter Gittern. Er würde nach solchen Bemerkungen wohl verschmitzt dreinschauen, wenn er noch irgendwie schauen könnte.

Mit seinem letzten Satz widerspricht Hawking schließlich Einstein und kehrt dessen Zitat ins Gegenteil um: „Gott würfelt wirklich“, sagt er. Wir alle sind das Produkt von Quantenfluktuationen. Der anschließende Applaus ist ohrenbetäubend. Die Zuhörer springen auf. Allen voran der FU-Präsident in der ersten Reihe. Und sie setzen sich erst wieder, als Hawkings Assistent mit beschwichtigenden Gesten energisch darum bittet. Der Professor war noch gar nicht fertig gewesen. Nur das Redemanuskript, das man an die Zuhörer verteilt hatte, endet mit dem Satz: „God really does play dice.“ Hawkings letzter Satz heißt: „Thank you for listening to me.“