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Archiv-Artikel

Frau Merkel

DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Selbst Deutschlands Meistersoziologe Ulrich Beck sagt: Die ist irgendwie so unscharf

Frauen sind ganz anders. Genauer: Westfrauen sind ganz anders als Ostfrauen. Die Moderatorin des ZDF-Morgenmagazins wurde gerade gefragt, worüber sie sich in der letzten Woche besonders geärgert hat. Patricia Schäfer antwortete: „Dass Angela Merkel immer wieder ‚Frau Merkel‘ genannt wird. ‚Herr Schröder‘ sagt auch nur einer, der herablassend klingen will. Sprachwissenschaftlich gesehen markiert man damit die weibliche Kanzlerin als Abweichung von der Norm.“ Eindeutig Westfrau. So etwas sagen nur Westfrauen. „Sprachwissenschaftlich gesehen …“!

Und ist Frau Merkel, so unter uns Linguisten, nicht wirklich eine Abweichung von der Norm? Ja, ist es nicht, sagen wir, ihr normativer Anspruch, von der Norm abzuweichen, weil erst die Abweichung von der Norm gewissermaßen eine neue Norm und damit neue Normalität schafft? Mehr noch, wir wohnen hier nicht nur der Begründung eines neuen normativen Anspruchs, sondern geradezu einem Paradigmenwechsel bei.

Paradigmenwechsel sind, und das nicht nur sprachwissenschaftlich gesehen, aber auch – linguistic turn! –, nicht nur das Fortbewegungsgesetz der Wissenschaft, sondern ab jetzt auch der Wirklichkeit. Das ist geradezu ein Paradigmenwechsel bei den Paradigmenwechseln, und für alle, die noch nicht mitbekommen haben, warum Angela Merkel tatsächlich einen solchen darstellt, sei es hier noch einmal gesagt: Der DA (für alle Nachwendegeborenen: das war der „Demokratische Aufbruch“, eine eher konservativ ausgerichtete Bürgerbewegung kurz vor und kurz nach dem Ende der DDR), der DA also bekam im Frühjahr 1990 immerzu Westpakete. Darin waren Computer. Die waren lieb gemeint, nur gab es im ganzen DA keinen, der sie anmachen konnte. Doch, es gab einen, das war eine, das war sie: Angela Merkel. Die packte die Dinger einfach aus, schloss sie an, lud das Betriebssystem: Fertig!

Man macht sich heute gar keinen Begriff mehr, was für eine Abweichung von der Norm das darstellte. Wir jedenfalls sind in den letzten DDR-Jahren bald nicht mehr zum Pflicht-Computer-Kurs an der Uni gegangen, weil wir schon am „Laden des Betriebssystems“ vollständig gescheitert sind. Natürlich war das mit den Westpaketen unfair, denn der Runde Tisch hatte beschlossen, dass die Westparteien sich bei dieser ersten freien DDR-Wahl völlig raushalten sollten. Machten sie aber nicht.

Insgesamt sind sieben Millionen D-Mark Wahlkampfhilfe in die DDR geflossen; 4,5 Millionen allein für die Konservativen, den DA & Co., das Bündnis für Kohl. Das war schon eine gewisse Abweichung von der gerade gesetzten Norm. Angela Merkel, die Computeraktivistin der ersten Stunde, versucht immerzu, möglichst keine Ost-Sätze zu sagen. Also nichts, das an ihre Herkunft aus dem Waldhof bei der Waldschule in Templin (Uckermark) erinnern könnte. Und sie merkt nicht, das sie trotzdem ständig Ost-Sätze bildet. Etwa: „Ich habe den Eindruck, dass die Tatsache, dass ich eine Frau bin – mehr noch als die Tatsache, dass ich aus dem Osten stamme –, für viele durchaus eine Rolle spielt.“ Typischer Ost-Frau-Satz.

Ein wenig klingt darin, rein sprachwissenschaftlich betrachtet, natürlich der Gestus ihrer wissenschaftlichen Arbeit „Untersuchung des Mechanismus von Zerfallsreaktionen mit einfachem Bindungsbruch und Berechnung ihrer Geschwindigkeitskonstanten auf der Grundlage quantenchemischer und statistischer Methoden“ mit. Höchstwahrscheinlich hat der Spiegel es sich zu einfach gemacht und die Arbeit doch nicht ganz bis zu Ende gelesen, sonst hätte er Frau Merkel, nein Frau Angela Bundeskanzlerin in spe Merkel, doch nicht mit der These konfrontiert, dass Frauen im Allgemeinen als emotional gelten. Da sitzen drei Spiegel-Herren, die 1990 im Osten bestimmt alle noch nicht das Betriebssystem hätten laden können, dieser Frau gegenüber und fragen so was. Woher soll sie das wissen?

Die oben erwähnte Sprachwissenschaftlerin vom ZDF-Morgenmagazin hatte eine Vorgängerin, die hieß Maybritt Illner und war manchmal ungemein irritiert. Und zwar immer dann, wenn man sie nach ihrer speziell „weiblichen Sicht“ der Dinge fragte. Man(n) war meist eine Frau. Weibliche Sicht – was soll das denn sein? Illner: „Wieso sollte ich einen Vorgang als Frau anders sehen denn als politisch denkendes, ästhetisch empfindendes Menschenkind.“ Sie kam selbst drauf, dass das mit ihrer DDR-Herkunft zu tun haben müsse, sie kennt einfach „keine trotzigen Selbstbehauptungen, keine Geschlechterkämpfe“.

Trotzdem hat sie soeben ein bemerkenswertes Buch herausgegeben, das heißt: „Frauen an der Macht. 21 einflussreiche Frauen berichten aus der Wirklichkeit.“ Ja, woher denn sonst? Nun gut, vielleicht berichten Frauen ja noch öfter aus der Linguistik. Die 21ste Frau in Illners Buch ist Angela Merkel, die kürzlich Gast auf einer Gala in Berlin war. Der Gastgeber begrüßte den Bundeskanzler, dann die Noch-Oppositionsführerin und fügte freudig an, dass durch beider Erscheinen „die Ausgewogenheit der Geschlechter“ hergestellt sei. Frau Merkel war schwer irritiert. Was für Probleme hat der denn? Ist schon merkwürdig, dass diese Ost-Frau als Beinahe-Diffamierung empfindet, was ihre Mitfrauen West als Sieg sehen.

Aber warum hat uns die Begründung des neuen normativen Anspruchs, dieser Paradigmen- als Kanzler-Wechsel, uns irgendwie so traurig gemacht? Also mehr die Ostfrauen, nicht die Westfrauen. Das hat auch nichts mit Politik zu tun, eher was mit Ästhetik. Wir müssen die jetzt täglich sehen. Genau da liegt das Problem. Selbst Deutschlands Meistersoziologe Ulrich Beck sagt: Die ist irgendwie so unscharf! Es ist wie bei Woody Allen: Angie is out of focus. Und dazu dieses Formelhafte, diese zeitlose FDJ-Sekretärinnensprache, dieser Sprachfertigteil-Legoland-Jargon: „Ich möchte Deutschland vorwärts bringen…“.

Ist Frau Merkel, so unter uns Linguisten, nicht wirklich eine Abweichung von der Norm?

Am Abend der Bundestagswahl haben wir noch gedacht: Vielleicht wird alles gut. War das nicht wunderbar, wie Kanzler Schröder immerzu sein Ich-bleibe-Kanzler-basta! rief? Nein, war es wohl nicht. Nicht in Westfrauenaugen. Die gucken einen dann gleich so frauenfeind-feindlich an. Aber Schröder hatte nicht mehr das Deutsch-Biedere wie Kohl, überhaupt nichts Provinzielles. Für diesen Kanzler musste man sich kein bisschen schämen im Ausland. Er hatte „es“ irgendwie. Solche Sätze sind natürlich gefährlich. Denn West-Frauen sind in Wirklichkeit Linguistinnen.

Sogar Antje Vollmer. Die hat eben das große Es analysiert. Das Es wie es in Sätzen wie „Die kann es nicht“ vorkommt. Antje Vollmer hat nicht mal Angst vor Worten wie „das große Feminat“. Und trotzdem, wenn Antje Vollmer Bundeskanzlerin geworden wäre! Wie laut hätten wir in den Begrüßungsruf der taz eingestimmt: „Es ist ein Mädchen!“ Es? Egal. Antje Vollmer lässt sich vollkommen scharf stellen, die spricht ihre eigenen Sätze.

Ja, wenn Antje Vollmer … Aber unmöglich. Vielleicht darf so ein(e) Bundeskanzler(in) gar nicht zu viele Eigenschaften, zu viele Eigeninhalte haben. Vielleicht passt die formale Legoland-Intelligenz viel besser. Eigentlich soll sie doch nur das Betriebssystem laden. Keine schlechte Aufgabe für Frau Merkel.