Theater, Bundesliga-Endspurt, Social Slumming in der Eckkneipe
: Abstiegsangst, nur schöner als früher

Ausgehen und Rumstehn

von René Hamann

Zwei, drei Reihen hinter mir rief tatsächlich jemand „Buh!“. Ein irgendwie schockierender Moment. Sicher, das Stück war nicht ganz so gelungen. Aber die Schauspieler haben sich doch solche Mühe gegeben! Und dann dieser schlappe Applaus – und zwei-, dreimal eben „Buh!“. Irgendwie war das, als ob jemand die Hosen hinunterlassen würde. Eine peinliche Situation, die dafür sorgte, dass der Applaus noch einmal anschwoll.

Die Mittelschicht sitzt im Theater, in der Schaubühne, und schaut sich die obere Mittelschicht, französische Ausgabe, auf der Bühne an. „Bella Figura“ von Yasmin Reza wurde gegeben, richtig, das ist die Dramatikerin, die schon für „Der Gott des Gemetzels“ gesorgt hatte. Nina Hoss ist wirklich eine formidable Actrice. Sie gab diesem gediegenen Schauspiel in ebensolchem Ambiente etwas Tiefe.

Trotzdem: ein netter Ausklang eines angenehmen Wochenendes. In der U-Bahn zurück vom Theater saß vor mir ein Schlaks, der sich immer wieder nach hinten umdrehte und nervös mit seinem alten Handy spielte. Hochwasserhosen sind wieder in. Ich entwickelte eine leichte Paranoia. Ein, zwei Bettler kamen vorbei, der zweite sogar zweimal, niemand gab ihnen Geld. Eine Frau mit asiatischem Aussehen hatte blassrosa lackierte Fingernägel; nur der Nagel des Ringfingers der linken Hand war hellblau. Der Schlaks stand irgendwann auf und unterhielt sich vorsichtig mit einer Frau im hinteren Abteil – vermutlich der kontaminierte Ausklang eines Streits.

Begonnen hatte das Wochenende in einer alten Neuköllner Eckkneipe. Social Slumming, so hatte das Douglas Coupland, Autor der Slacker-Bibel „Generation X“, frühe neunziger Jahre, einst genannt: Man sucht absichtlich sozialfremde Umgebungen auf, um sich wahlweise herunterzudimmen, leicht zu gruseln oder sich von den anstrengenden Codes des eigenen sozialen Felds zu erholen (oder, weitere Möglichkeit, eine Art Heimkehr zu feiern). Ich bestellte mir eine Bulette mit Kartoffelsalat. Dazu gab es Schul­theiss-Bomben. Im Hintergrund lief ein Regionalsender, der mal „Those Were the Days“ spielte und mal „Black Magic Woman“. Im äußerst groß geratenen Hinterzimmer – dem Raum fürs Public Viewing – hing die Fahne von Fortuna Düsseldorf; das war augenscheinlich eine Oase für die wenigen Fans eines selten auftauchenden Fußballklubs. Gut, eine Fahne von Hertha BSC hing auch da.

Die Fortuna-Fans trollten sich nach dem 1:1 in ihrem Zweitligaspiel gegen St. Pauli. Ein paar bleiche Jungs und zwei adrette Damen entpuppten sich als Werder-Fans, wir stellten die Minderheit, konnten das Spiel aber für uns entscheiden: 2:1 für den HSV. Im Anschluss stürmten lauter junge Leute um die 20 den Laden. Sie spielten Darts oder Billard und flachsten miteinander. Es war wie damals in der Provinz, nur schöner.

Um Abstiegsangst, Geheimnistuerei und soziale Schieflagen war es in „Bella Figura“ gegangen. Nina Hoss gab eine Apothekerin, nein: pharmazeutische Assistentin, die Geliebte eines gescheiterten Geschäftsmanns, der mit Verandas handelte. Sie war eine alleinerziehende Mutter, er ein verheirateter Familienvater. Eine vielleicht zu übliche Konstellation, die man so auch nur aus französischen Filmen kennt. Um Abstiegsangst ging es in den Le­nau­stuben allerdings auch. Doch die Geheimnisse blieben weithin außen vor, und die sozialen Schieflagen glätteten sich.