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Archiv-Artikel

Ein grundsätzliches Einverständnis

ENTSCHLEUNIGUNG Einmal rund um den Schlachtensee, einmal zurück in die DDR und einmal quer durch die Steppe Kasachstans: Im Spaziergang mit dem Dichter und Erzähler Lutz Seiler nimmt die Geschichte Schritttempo an

In der Erzählung „Der gute Sohn“ baut sich ein Junge im Wald eine Hochsprungvorrichtung, trainiert heimlich Tag für Tag, um dann am Ende festzustellen, dass viele seiner Klasse beim Schulsportfest ohne Mühen höher springen als er. „Es war nicht schlimm, es rechnete ja niemand mit mir“

VON WIEBKE POROMBKA

Gegen die Zeit zu laufen, sagt Lutz Seiler, habe sein Vater es genannt, wenn man die Richtung entgegen dem Uhrzeigersinn einschlägt. Treffender ließe sich unser Spaziergang kaum umschreiben. Wenn man mit Seiler an einem stürmischen Herbstmorgen um den Schlachtensee (im Westen Berlins) schlendert, entgegen dem Uhrzeigersinn, hat man mit jedem Schritt mehr das Gefühl, in eine andere Zeit einzutauchen. Das mag an der Ruhe liegen, die der 1963 Geborene ausstrahlt und die so gut zu der Ruhe des Ortes passt.

Natürlich liegt es auch an dem, was er über sein Leben und sein Arbeiten erzählt, das fast drei Jahrzehnte lang ein Leben und Arbeiten in der DDR war. Seiler spricht leise und abwägend, lacht dann aber überraschend jungenhaft, so als wäre er selbst ein bisschen verwundert über das, was er da erzählt. Über die Jahre bei der Armee, als er Panzerattrappen bauen musste, und über die Jahre auf dem Bau, wo er als Zimmermann und Maurer arbeitete. Manchmal lacht er auch einfach über die Dackel in den karierten Stoffüberzügen, die ihren Morgenspaziergang am See machen und von denen ab und zu einer an seinen Hosenbeinen schnüffeln will.

Seiler erzählt über seine Zeit bei der Armee: Während die anderen an Laubsägearbeiten gesessen hätten, um sich die ewigen Stunden und Abende in der Kaserne zu vertreiben, habe er sich ins Bett gelegt und gelesen, obwohl das in seiner Kindheit und Jugend nie eine große Rolle gespielt habe. Wie selbstverständlich scheint es für ihn, fast gleichzeitig mit dem Lesen auch zu schreiben begonnen zu haben. Es sei eine Möglichkeit des Herauskommens gewesen. Zwar habe er sich zwischendurch auch mal an einer Sägearbeit versucht, aber nicht so ein glückliches Händchen gehabt. Wieder ein lautes Jungenlachen. Ein Kerzenständer sei es geworden. Seiler dehnt die Vokale ein wenig, manchmal zieht er ganze Worte in die Länge, manchmal wiederholt er eins, Panzerattrappe zum Beispiel, wie, um seinen Klang noch einmal zu prüfen oder sich die Zeit in Erinnerung zu rufen, als dieses Wort zu seinem Alltag gehört hat.

Erinnern ohne Bitterkeit

Das Erinnern, das Aufrufen und Sinnlichmachen von Erinnerungen ist auch in Seilers Texte eingeschrieben. In seinem Erzählungsband „Die Zeitwaage“, der gerade erschienen ist, ist es mal die thüringische Landschaft, in der auch Seiler, der aus Gera stammt, seine Kindheit verbrachte. Mal das Ostberlin an der Wende zu den Neunzigerjahren, als in Prenzlauer Berg die Wohnungen leer standen und man kaum mehr als ein neues Türschloss brauchte, um dort einziehen zu können. Und selbst da, wo Erzählungen im heutigen Amerika spielen, hat man den Eindruck, über etwas Fernes zu lesen, weil Seiler in einem ganz eigenen und eigenwilligen Tempo die Welt um sich herum wahrnimmt und abbildet.

Die Themen und Orte, über die Seiler schreibt, scheinen eng mit seinem eigenen Leben verbunden zu sein. Wenn man ihm das sagt, guckt er allerdings mehr als skeptisch. Ihm sei das noch nie aufgefallen. Vielleicht entsteht dieser Eindruck aber auch nur, weil seine Biografie so ganz anders als die eigene ist. Ost-Biografie – dieses Wort hat etwas Komisches, aber es fällt einem immer wieder ein.

Ursprünglich habe er Architekt werden wollen, sagt Seiler, aber es sei ungeheuer schwer gewesen, einen Studienplatz zu bekommen, und am Ende hätte man dann vermutlich ohnehin nur Plattenbauten entwerfen können. Das sind Sätze, die man so und in ähnlichen Variationen schon unendliche Male gehört hat. Bei Seiler aber haben sie nicht einen Anflug von Bitterkeit, und das scheint nicht daran zu liegen, dass seine Bücher mittlerweile im Suhrkamp Verlag erscheinen. Seit er vor zwei Jahren den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen hat, findet er nicht mehr nur als Lyriker, sondern auch mit seiner stillen, präzisen und doch so sehr melodiösen Prosa erhebliche Beachtung.

Bei Seiler hat man das Gefühl, dass für ihn alles seine Richtigkeit hat. Dass es Umstände gibt, mit denen man sich arrangieren muss. Dass auch das Scheitern mit hineingehört ins Leben. Das hat nichts mit Fatalismus zu tun, eher mit einem grundsätzlichen Einverständnis. In seinen Geschichten geht es immer wieder auch darum. Wie in der Erzählung „Der gute Sohn“, in der ein Junge sich im Wald eine Hochsprungvorrichtung baut, heimlich Tag für Tag trainiert, um jeden Zentimeter ringt, um dann am Ende festzustellen, dass viele seiner Klassenkameraden beim Schulsportfest ohne Mühen höher springen als er. „Es war nicht schlimm, es rechnete ja niemand mit mir.“

Die Ruhe vom Waldrand

Ab und zu prasselt ein Eichelhagel hinunter auf den Uferweg des Schlachtensees, durch den sich einzelne Pfützen ziehen, und holt uns zurück in die Gegenwart. Auch die hat bei Seiler ihr eigenes Tempo. Sein erstes Buch, der Gedichtband „berührt/geführt“, erschien 1995 im Chemnitzer Oberbaum Verlag, da war er 32 Jahre alt war. Fünf Jahre später folgte, nun bei Suhrkamp, der Band „pech & blende“. Gemessen an den ungeschriebenen Regeln des Literaturbetriebs, sind das halbe Ewigkeiten. Schwer zu sagen, ob Seiler verständnislos lächelt, wenn man ihn darauf anspricht, oder amüsiert.

Auch nach dem Bachmannpreis mussten erst mehr als zwei Jahre vergehen, bis nun „Die Zeitwaage“ erschienen ist, auch die in Klagenfurt ausgezeichnete Erzählung „Turksib“ findet man darin. Sie erzählt von einer Reise mit der Transibirischen Eisenbahn durch die kasachische Steppe, eine radioaktiv verseuchte Landschaft. Mancher glaubte zwischen den Zeilen eine kleine Hommage an Wolfgang Hilbig zu lesen, weil die Figur eines Heine zitierenden Heizers auftaucht. Natürlich hätte ein Verlag gern, dass auf so einen Preis schneller das nächste Buch folgt. Aber Seilers Ruhe scheint ziemlich unerschütterlich zu sein.

Ohne sie könnte er nicht schreiben, erklärt er. Deshalb lebt und arbeitet er seit über zehn Jahren in den oberen Etagen des Peter-Huchel-Hauses in Wilhelmshorst, einer kleinen Ortschaft südlich von Potsdam, direkt am Waldrand. Seit 1997 organisiert er das literarische Programm des Hauses, in dem Peter Huchel seit Anfang der 50er-Jahre lebte, oder kümmert sich auch mal darum, dass das Dach renoviert wird. In dem Text „Am Kap des guten Abends“ kann man nachlesen, wie Seiler 1995, angeregt durch Huchels Witwe, in das leer stehende Haus einstieg und in sein Notizbuch schrieb: „Heizung erneuern, Türen aufarbeiten, Fenster, usw.“ Es ist eine eigenartige Vorstellung, dass Seiler, der in seinen Erzählungen und Gedichten die Worte so feinsinnig zu setzen weiß, Steine und Holzbalken schleppen und ein altes Haus instand setzen kann, auch wenn er das natürlich nicht allein gemacht hat.

„die poesie ist mein schiesshund“ ist der Titel eines Gedichts, das Seiler Peter Huchel gewidmet hat. „aber der hase, vielleicht / kommt er durch?“ beginnt es, und ein paar Zeilen weiter heißt es: „doch wenig / führt durchs gedicht. etwas vielleicht / in aller müdigkeit, fette / auguren, restbestände, ein / beigeschmack im aufblättern der bäume“. Wenn man Lyrik schreibt, sagt Seiler, schaue man konzentriert abwesend. Man versuche, das stärkste Bild abzuschöpfen und festzuhalten. Beim Schreiben von Prosa, mit dem er erst später begonnen habe, sei das ganz anders. Man schaue konzentriert anwesend. „Wenn ich zum Beispiel diese Leute dort vorn als Prosaautor betrachte“, Seiler deutet auf drei ältere Hundebesitzer, „dann denke ich über Handlungs- und Personenkonstellationen nach, nicht über Bilder.“

Ständig geht was kaputt

Szenen und Bilder sind es auch, die er fast täglich in einem Notizbuch festhält, so wie vor ein paar Jahren die Renovierungsvorhaben am Huchel-Haus. „Eigentlich müsste man viel mehr fotografieren“, fügt er hinzu. Aber er könne ja einfach so wahnsinnig schlecht mit technischen Geräten umgehen, es sei ganz seltsam, ihm gingen elektronische Dinge ständig kaputt.

Das passt einfach so gut zu dem, was Seiler bisher erzählt hat, über seine Kindheit in Thüringen, über das entschleunigte Leben in der DDR oder über die Abgeschiedenheit des Peter-Huchel-Hauses, dass man es im Grunde nur für kokett nehmen kann. Aber wenn Seiler wieder sein jungenhaftes, verwundertes Lachen lacht, dann glaubt man es ihm gern.

Auch wenn man gegen die Zeit läuft und auch wenn Seiler nichts zu treiben scheint, er hin und wieder stehen bleibt, um einen Blick über das Wasser zu werfen, das sich im Wind kräuselt, hat man den See plötzlich dann doch umrundet und steht wieder an der Treppe, die vom Ufer zur Straße und zur S-Bahn-Station hinaufführt. Sein Auto parke gleich dort vorne, sagt Seiler, und bietet an, noch ein Stück gemeinsam nach Berlin hinein zu fahren. Aber man möchte sich das Bild vom Dichter, der auf ganz eigenartige Weise aus der Zeit gefallen scheint, der am Waldrand lebt und dem alles Technischen ein bisschen suspekt ist, lieber noch ein wenig bewahren, zumindest an diesem Morgen.

■ Lutz Seilers Erzählungsband „Die Zeitwaage“ ist bei Suhrkamp erschienen, 284 Seiten, 22,80 €