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Archiv-Artikel

„Die Krankheit ist kein Programm“

DAS GROSSE INTERVIEW (I) Zwischen den Jahren sprechen wir mit Menschen, die 2013 Großes vorhaben. Der niedersächsische Linken-Politiker Victor Perli sagt, warum er nach seiner Krebserkrankung in die Politik zurückkehrt

Victor Perli

■ 30, Vize der niedersächsischen Linksfraktion und ihr Sprecher für Jugend-, Kultur-, Wissenschafts- und Forschungspolitik sowie Vorsitzender der Linke/Piraten-Gruppe im Kreistag Wolfenbüttel, hat Soziologie und Geschichte studiert – in Braunschweig und später, um den niedersächsischen Studiengebühren zu entgehen, in Potsdam. War von 2003 bis 2007 Sprecher der Linksjugend Solid und Mitorganisator der Kampagne „Aufmucken gegen rechts“. Sein Vater Piercarlo gründete 1991 in Quedlinburg das erste italienische Ristorante in der ehemaligen DDR, „Perli’s Pasta Mia“. Im September 2012 hatte Perli seinen befristeten Rückzug aus der Politik angekündigt, um seine Krebserkrankung therapieren zu können.

INTERVIEW BENNO SCHIRRMEISTER

taz: Herr Perli, ist dies Ihr erstes Interview über Ihre Krankheit?

Victor Perli: Es ist das erste, das mit Bezug darauf angefragt wurde. Aber ich werde hier nicht meine Krankenakte ausbreiten oder über Einzelheiten des Verlaufs reden.

Das ließe sich im Wahlkampf sicher prima ausschlachten.

Das finde ich nicht. Und vor allem: Das habe ich nicht vor.

Warum?

Ich will ja nicht für meinen Lebenslauf und schon gar nicht wegen meiner Krankheit gewählt werden. Ich will gewählt werden wegen der Ziele, für die ich antrete. Die Krankheit ist kein Verdienst und kein Programm. Die kann jeden treffen, ob Müllwerker, Krankenschwester oder Politiker. Der Unterschied ist, dass ich in der Öffentlichkeit stehe. Deshalb muss ich bis zu einem gewissen Grad darüber sprechen.

Sie müssen?

Ja. Das war mir von Anfang an klar: In dem Moment, wo du ein paar Monate in Behandlung gehst, musst du darüber informieren. Weil die Abwesenheit ja auffällt und sich Fragen ergeben: Wo ist der plötzlich? Warum nimmt der keine Termine wahr? Da können Gerüchte entstehen, also kommst du nicht drum herum, die Öffentlichkeit davon in Kenntnis zu setzen.

Aber?

Das Verarbeiten der Krankheit selbst, das Gesundwerden – das ist für mich Teil der Privatsphäre, des geschützten Bereichs.

Einige linke Theoretiker, Gramsci etwa, halten diese Trennung für einen bürgerlich-ideologische Fiktion.

Einer der großen Kämpfe heute ist der Kampf ums Recht auf diese Privatsphäre, also etwa für Datenschutz, gegen Überwachung und Vorratsdatenspeicherung: Es geht auch um die Macht von Konzernen wie Facebook und Google und um die Frage, was man in 50 Jahren noch von sich im Netz finden will. So etwas konnte sich Gramsci sicher nicht vorstellen.

Aber Krankheit ist doch auch ein gesellschaftliches Faktum?

Natürlich. Kranksein ist ein Politikum. Aber das ist es nicht in der Frage nach meinem persönlichen Wohlergehen – sondern in der danach, wie unsere Gesellschaft mit Krankheit und Kranken umgeht, wie der Staat kranke Menschen unterstützt, welches Gesundheitssystem wir haben, und ob jeder darin die gleichen Chancen hat, wieder gesund zu werden. Im aktuellen Landtagswahlkampf geht es auch darum, dass die niedersächsischen Krankenhäuser nicht weiter kaputt gespart werden.

Der gesellschaftliche Charakter gerade von Krankheiten wie Krebs geht aber noch weiter.

Zweifellos: Ich erinnere daran, dass in meinem Landkreis gerade erst wieder Zahlen aufgetaucht sind, wonach es in der Umgebung der Asse höhere Leukämie-Raten gibt. Genauso müssen wir die erhöhten Krebsraten in der Umgebung von AKWs beachten. Das sind Themen, die auch auf landespolitischer Ebene – beispielsweise in der Debatte um das Krebsregister – eine Rolle spielen, und bei denen ich mich, infolge meiner Krankheit, jetzt intensiver engagieren möchte. Aber das geht nur, indem ich von meiner eigenen Erkrankung abstrahiere.

Also keine Betroffenheitsrhetorik?

Die Krankheitserfahrung steht nicht im Mittelpunkt des politischen Handelns.

In Debatten polarisieren Sie oft: Sie polemisieren selbst gern – und ziehen viele Angriffe auf sich. Hat sich das geändert?

Ich wähle klare Worte, um meine Kritik und Unterschiede zu anderen Parteien deutlich zu machen. Das belebt Diskussionen natürlich, daran hat sich bisher nichts geändert. Mich hat aber sehr gefreut, dass ich Genesungswünsche aus allen Landtagsfraktionen bekommen habe.

Aus allen?

Ja, wirklich aus allen – und das zeigt, dass bei aller Härte der Auseinandersetzung und allen inhaltlichen Unterschieden doch auch das Menschliche im Blick bleibt. Aber ich möchte jetzt auch gar nicht anders behandelt werden.

Weil auch betonte Rücksichtnahme eine Form der Diskriminierung ist – gegen die man sich nur sehr schwer wehren kann?

Absolut. Und mit Samthandschuhen angefasst werden – das will ich auf gar keinen Fall. Auf Podien soll in der Sache hart gestritten werden. Da teile ich aus. Und ich muss einstecken. Das ist das demokratische Prinzip. Wenn ich dabei eine Sonderbehandlung feststellen würde, dann würde ich es auch hinterher ansprechen und sagen: Bitte, nehmt mich ernst als politischen Menschen. Ich habe zwar die besseren Argumente – aber trotzdem, wehrt euch.

Es gibt schon Attacken auf die man verzichten kann: Wenn Innenminister Uwe Schünemann suggeriert, Sie wären zu Unrecht eingebürgert worden – das muss Sie doch verletzt haben?

Das hat hat mich schon persönlich getroffen, auch weil ich mir sicher bin, in einem völlig gesetzeskonformen, normalen Einbürgerungsverfahren die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten zu haben. Der Anlass war ja, dass Schünemann anhand des Verfassungsschutzberichts aufzählte, wer aus der Linksfraktion alles Extremist sei.

Zum Beispiel Sie?

Da fiel auch mein Name. Und daraufhin habe ich gefragt: Wie das denn sein könne, wo ich doch eingebürgert worden war. Und ob er häufiger Extremisten einbürgere.

Das hatte er nicht auf dem Schirm.

Darauf war er offenkundig nicht vorbereitet gewesen – und hat dann wie beschrieben ausgeteilt: Er hat im Landtag angekündigt, die Sache zu prüfen und ein paar Tage später dann per Pressemitteilung insinuiert, mein Landkreis hätte die Regelanfrage beim Landesverfassungsschutz vergessen – was aber offenbar nicht wahr ist. Für mich hat der gesamte Vorgang bewiesen, dass Innenminister Schünemann den Vorwurf des Extremismus nach Gutdünken einsetzt, um den politischen Gegner zu diffamieren, um Die Linke mit Schmutz zu bewerfen. Das hat mit sachlicher Debatte nichts zu tun. Auf so etwas kann ich heute genauso gut wie damals verzichten – völlig unabhängig von der Krankheit.

Verändert sich durch die denn die persönliche Gewichtung eines möglichen Wahlerfolgs?

Nein, das sehe ich nicht. Ich hatte immer einen Plan B zur Politik, ich möchte auch nicht mein gesamtes Leben im Parlamentsbetrieb zubringen. Insofern freue ich mich auf weitere fünf Jahre Landtag, die ich aber nicht brauche, um ein erfülltes Leben zu führen. Daran hat die Krankheit nichts dran geändert.

Gar nichts?

Nein. Allerdings weiß man jeden neuen Tag intensiver zu schätzen. Das ist bei schweren Krankheiten glaube ich allgemein so.

Und dieser Gedanke – motiviert der Sie im Wahlkampf zusätzlich? Oder lässt er Sie eher auf die Bremse treten und sagen: Sachte, sachte, es gibt Wichtigeres?

Ich habe mich gefreut darüber, dass ich jetzt sogar noch in die heiße, letzte Phase des Wahlkampfs eingreifen kann, und auf Podiumsdiskussionen mitmische: Es ging eben schneller als erwartet mit der Therapie. Und diese große, besondere Freude bringe ich mit, klar: Weil ich den Wert des täglichen Lebens vor Augen habe, den Wert der Gesundheit. Aber natürlich ist mir auch klar, dass ich dem Körper Zeit geben muss, um sich zu erholen. Ich werde jetzt nicht 24 Stunden am Stück arbeiten. Ich habe meine Aufgaben, meine Schwerpunkte, die werde ich erledigen – aber nicht auf Kosten der Gesundheit.

Bei Ihrem bisherigen Hauptthema, dem Kampf gegen Studiengebühren, ist ja auch kaum noch Stress zu erwarten.

Das sehe ich ganz anders. Die Frage der Gebührenfreiheit und Bildungsgerechtigkeit ist hochaktuell. Sie ist das zentrale Thema in der Bildungspolitik – und dazu gehört auch ein Studium ohne Gebühren. Solange die nicht abgeschafft sind, werde ich keine Ruhe geben.

Das kann nicht lange dauern –selbst Stephan Weil hat sich nach langem Zögern endlich auf eine Abschaffung festgelegt.

Das Problem ist, dass SPD und Grüne sie erst in zwei Jahren abschaffen wollen.

Ja, das ist so eine Kompromissformel …

Das steht bei denen im Wahlprogramm: 2014 / 15. Und wenn es nicht zu Rot-Grün, sondern zur großen Koalition kommt, ist die Frage ohnehin völlig offen. Wir streiten als einzige für eine Abschaffung direkt nach der Landtagswahl. Ich möchte in dieser Frage die Regierung treiben – egal welcher Couleur.

Aber Sie hoffen auf die große Koalition?

Ich werbe für einen Politikwechsel mit einer starken Linken, die die anderen unter Druck setzt.

Na ja, Rot-Grün wird’s nur ohne Linksfraktion geben.

An uns wird nicht scheitern, wer in Niedersachsen eine andere Politik machen will. Das müssen aber nicht wir, sondern SPD und Grüne entscheiden. Ich vermute, dass Sigmar Gabriel ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl dafür sorgen wird, dass sich Stephan Weil auf die große Koalition orientiert. Wie die SPD das ja auch insgesamt tut.

Und worauf sich strategisch denkende Wähler des Spektrums von Grün bis Links im Zweifel gegen Die Linke entscheiden – weil sie sonst zum Machterhalt der CDU beitragen?

Die strategisch denkenden Wähler haben aus den Erfahrungen mit rot-grünen Regierungen gelernt. Sie wissen, dass wir in so einem Fall eine politische Sozialversicherung brauchen, damit SPD und Grüne nicht wieder nach rechts abdriften. Und das kann nur Die Linke sein. Die Agenda 2010 war der schlimmste Sozialabbau in der Geschichte der Bundesrepublik und die Gründung der Linken war eine Reaktion auf den Verrat an den sozialen Zielen.

im Bund.

Ach was. Auch in den Ländern, und gerade hier in Niedersachsen: Thomas Oppermann von der SPD war es doch, der hier die Studiengebühren eingeführt hat! Das wollen wir doch nicht vergessen! Und die Orientierungsstufe abzuschaffen, und zur Selektion nach Klasse 4 zurückzukehren, war auch Sigmar Gabriels Idee. Es braucht eine Kraft, die SPD und Grüne jeden Tag daran erinnert, was Politikwechsel nach links bedeutet.

Und deshalb ist Die Linke so erfolglos?

Die Linke ist eine sehr erfolgreiche Partei, die soziale Gerechtigkeit wieder zum Thema gemacht hat.

Die ums politische Überleben kämpft.

Die Linke hat eine starke Fraktion im Bundestag, sie hat eine starke Fraktion im niedersächsischen Landtag …

und wird die laut Umfragen 2013 nicht mehr haben.

Vor fünf Jahren sind wir auch erst 17 Tage vor dem Wahltag in den Umfragen über die Fünfprozenthürde gekommen. Und bei der Wahl hatten wir 7,1 Prozent. Auch diesmal sind viele Wahlberechtigte noch unentschlossen. Es liegt an uns, deutlich zu machen, dass wir die einzige Partei sind, die nicht Milliarden aufwendet, um Banken zu retten – und anschließend die Krankenhäuser dicht zu machen und bei der Bildung zu sparen. Wir sind die einzige Alternative. Und wenn wir das vermitteln können, werden wir sogar mit einer gestärkten Fraktion in den Landtag einziehen. Da bin ich ganz optimistisch.