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Archiv-Artikel

Dutzende Tote bei Anschlag

RUSSLAND Bei der Bombenexplosion auf der Zugstrecke zwischen Moskau und St. Petersburg werden mindestens 25 Reisende getötet und 96 verletzt. Drahtzieher derzeit noch unklar

Inzwischen geht das Innenministerium jedoch von mehreren Tätern aus

AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH

„Ich hörte einen schweren Schlag und wurde unter den Sitz geschleudert. Später zogen mich Leute heraus und legten mich im Freien ab“, sagte ein Verletzter dem Nachrichtensender Vesti, der von Sanitätern notversorgt wurde. Das Zugunglück auf der Strecke von Moskau nach St. Petersburg hatte sich am Freitagabend gegen 21 Uhr 35 ereignet.

Der Schnellzug „Newski Express“ war mit 200 Kilometern pro Stunde nach einer Explosion in der Nähe von Bologoje rund 250 Kilometer vor St. Petersburg entgleist. Die Detonation riss drei Waggons von den Schienen, ein weiterer Wagen kippte eine Böschung hinunter. Nach Angaben des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB wurden auf dem Gleiskörper Reste einer Bombe mit einer Sprengkraft von mindestens sieben Kilogramm TNT sichergestellt.

Die Staatsanwaltschaft geht inzwischen von einem Terroranschlag aus. Am Samstagabend gab das Innenministerium die Fahndung zunächst nach einem etwa 40-jährigen rothaarigen Mann heraus. Inzwischen geht das Innenministerium jedoch von mehreren Tätern aus. „Es gibt Hinweise, dass mehrere Leute an dem Verbrechen beteiligt waren“, sagte Innenminister Raschid Nurgalijew. Zudem wurden „sehr viele Gegenstände gefunden, die uns eine Richtung vorgeben können, über die wir das Verbrechen aufklären werden“, sagte Nurgalijew. Als Ermittler am Samstagnachmittag das Gelände untersuchten, detonierte ein zweiter Sprengsatz, der aber keinen Schaden anrichtete.

Derweil ist noch ungeklärt, wie viele Personen bei dem Unglück starben und wie hoch die Zahl der Verletzten ist. Nach offiziellen Darstellungen des Katastrophenministeriums kamen 25 Personen ums Leben, 96 wurden zum Teil schwer verletzt. Inzwischen äußern die Behörden die Befürchtung, dass die tatsächliche Opferzahl höher ausfallen könnte.

Am Samstag war Interfax von 39 Toten und mehr als 100 Verletzten ausgegangen. Die Agentur berief sich auf den Einsatzleiter des Rettungsdienstes vor Ort, dem zufolge 14 Leichen noch in und unter dem umgestürzten Waggon entdeckt wurden. Auch gelten 26 Passagiere des Luxuszuges noch als vermisst. Die meisten Opfer soll ein Betonpfeiler verursacht haben, der durch das Dach eines Waggons schlug und alle Sitzreihen aus den Verankerungen riss. Unter den Toten sind auch der Chef des russischen Straßenwesens und Exgouverneur St. Petersburgs, Sergei Tarassow, und der Leiter des Staatsbetriebs Rosreserv.

Nach Aussagen des staatsanwaltlichen Ermittlungsleiters Wladimir Markins klafft am Unglücksort ein Bombentrichter von anderthalb Metern Durchmesser und 70 Zentimetern Tiefe. Staatliche Fernsehanstalten zeigten am Samstag jedoch nur Aufnahmen eines gerissenen Schienenstrangs.

Wenige Stunden nach dem Unglück hatte sich eine rechtsextreme Gruppe zu dem Anschlag bekannt. Die Skinhead Organisation Combat 18 (Ingermanlandija) ist den Behörden bisher nicht als Terrororganisation aufgefallen. In offiziellen Stellungnahmen tauchte diese Spur nicht auf. Russische Medien berichteten, dass der FSB hinter dem Schreiben einen Wichtigtuer vermute. Letzte Woche übernahm dieselbe Gruppe Verantwortung für einen Brandanschlag auf die U-Bahn in Sankt Petersburg. Ob das Bekennerschreiben als authentisch einzustufen ist, war auch gestern noch nicht geklärt.

Die Gruppe sprach darin von einem ersten Anfang, der wahre Krieg beginne erst. Die Zahl 18 steht für den ersten und achten Buchstaben im Alphabet und ergibt die Initialen Adolf Hitlers.

Die rechtsradikale Szene Russlands wurde in den letzten Jahren von den Sicherheitsstrukturen im Vergleich zur demokratischen Opposition mit Glacéhandschuhen angefasst. Die Staatsmacht schaute weg, wenn nationalistische Gruppen Gewalttaten begingen. Das ideologische Fundament aus Nationalismus, Chauvinismus und Ablehnung alles Fremden und Westlichen wurde vom Staat gelegt. Das bestärkte viele Extremisten in der Annahme, nur der operative Arm des Kreml zu sein, der sich öffentlich Zurückhaltung auferlegen müsse.

In den letzten Wochen gingen Sicherheitsorgane entschieden gegen Extremisten vor. Beobachter sehen darin einen Hinweis, dass die Ordnungsstrukturen befürchten, die bislang instrumentalisierbare rechtsradikale Szene könne der Lenkbarkeit entgleiten. So wurde Anfang November der Rechtsradikale Nikita Tichonow verhaftet. Er soll den Menschenrechtsanwalt Stanislaw Markelow und die Journalistin Anastasia Baburowa im Januar erschossen haben.

Bereits 2007 war auf den Schnellzug ein Anschlag verübt worden. 60 Menschen wurden verletzt. Damals soll Pawel Kosopalow, ein zum Islam übergetretener russischer Armeeangehöriger, im Auftrag tschetschenischer Islamisten die Tat begangen haben. Kosopalow ist seither flüchtig.

Der russische Nachrichtensender Vesti brachte Kosopalow gestern auch mit dem jüngsten Anschlag in Verbindung. Der Chef der russischen Eisenbahnen, Wladimir Jakunin, wies auf Parallelen hin: „Der Anschlag verlief nach einem Schema, das deutlich an das damalige Ereignis erinnert“, sagte er. Zurzeit stehen zwei Komplizen Kosopalows, Salambek Dsachkijew und Makscharip Chidrijew, als Verdächtige vor einem russischen Gericht. 2007 wurden zunächst auch russische Nationalisten als Drahtzieher des Attentats verdächtigt. Diese Spur wurde aber zugunsten der tschetschenischen fallen gelassen.