Berliner Szenen: Kinder ohne Respekt
In der Kreidezeit
„Ich komm nur ganz kurz raus, auf ein oder zwei Bier höchstens.“ So beginnen die besten Abende. Wenn man dann noch 20 Euro in den Geldautomaten tippen will, aber auf 200 Euro drückt, dann ist der Drops gelutscht. Acht Stunden später, die Sonne geht auf, es ist ungewöhnlich warm. Oder wir haben einfach eine besonders dicke Bierjacke an.
Ein paar Kinder laufen vorbei, den Schulranzen locker geschultert, sie schmeißen Kaugummipapier auf den Boden und unterhalten sich über Cartoon-Serien, von denen wir noch nie gehört haben. „Ab mit euch nach Hause, was macht ihr um die Zeit noch auf der Straße?“, rufen wir ihnen hinterher.
Aber mit derlei Sprüchen schockt man heute keinen Siebenjährigen mehr, sie lachen uns aus, einer spuckt gar seinen Kaugummi in unsere Richtung. Schimpfwörter fallen. Wer will es ihnen verübeln.
Wir haben eindeutig unsere Street-Credibility verloren, wenn jetzt nicht mal mehr die kleinen Kinder Respekt vor uns haben. Früher war alles besser. Wann dieses früher war, kann einem irgendwie niemand erklären, aber alle sagen es ständig. „Früher war alles besser.“
Reden wir vom Mittelalter oder der Weimarer Republik? Meint ihr damit die trüben 50er oder den Summer of Love? Oder etwa die Kreidezeit? Man weiß es nicht.
Komischerweise geht es immer um die Zeit, in denen man selber jung war. Könnte hier der Hund begraben liegen? Nein, nein, darum geht es nicht. Ab 30 wird einfach behauptet, dass vor 15 Jahren die Welt besser war. Das scheint genetisch bedingt.
Plötzlich, eine Taube. Ich werfe den Kaugummi der Kids in ihre Richtung, aufgeregt flattert sie davon. Puuh, doch noch etwas Autorität. Mit stolzgeschwellter Brust laufen wir nach Hause. Morgen ist Heute gestern und früher war alles besser, so viel ist sicher. Juri Sternburg
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