: Und Gott hatte den Blues
Die Bluesmessen waren legendär im Ostberlin der 80-Jahre. Damals reisten Freaks aus der gesamten DDR an. Heute erinnert eine Veranstaltung in der Samariterkirche an die Events, die Konzert, Gottesdienst und offene Kritik am DDR-Regime verbanden
VON GUNNAR LEUE
Ende der Siebzigerjahre herrschte in den Gotteshäusern in der DDR nicht eben großer Andrang. Auch nicht in der Samariterkirche in Friedrichshain. Schon deshalb horchte der dortige evangelische Jugendpfarrer Rainer Eppelmann auf, als ihn ein junger Mann und Wehrdienstverweigerer fragte: „Soll ich Ihnen die Kirche mit Leuten füllen?“ Eppelmann war natürlich neugierig, wie ein solches Wunder geschehen solle. Das Wunder hieß Bluesmusik. „Wenn der Blues im Gottesdienst vorkommt, dann lassen Sie uns mal überlegen“, sagte Eppelmann.
Mit Bluesmusik kannte sich der Gottesdiener nicht aus. Aber er wusste, dass viele junge DDR-Bürger wegen der Kluft zwischen sozialistischer Glücksverheißung und irdischer Realität den Blues hatten und auf die entsprechende Musik abfuhren. Eine missionarische Verlockung. Es gab jedoch ein formales Problem. Ein Konzert galt nicht als Gottesdienst und musste bei den Behörden angemeldet werden.
Am Ende fanden der Musiker Günter Holwas, genannt Holly, und der Kirchenmann einen Kompromiss: Hollys Bluesband machte Musik und zwischendurch trug Pfarrer Eppelmann mit seinem Kollegen Heinz-Otto Seidenschnur von der Auferstehungskirche biblische Texte vor, die Nöte in der DDR aufgriffen.
200 Leute beim Start dabei
Rund 200 Zuhörer fanden sich am 1. Juni 1979 in der Kirche ein. Ohne jegliche Werbung im Vorfeld. „Das waren weitaus mehr als zu jedem normalen Gemeindegottesdienst“, erinnert sich Rainer Eppelmann. „Da haben wir gesagt: Oh ja, das machen wir weiter.“
So begann die Ära der Bluesmessen, die eines der legendärsten Kapitel der DDR-Undergroundgeschichte wurden. Manche sehen in den Kirchenkonzerten, die von Jugendlichen aus der ganzen DDR besuchten wurden, gar eine Keimzelle der friedlichen Revolution. Deshalb halten die Akteure und Musiker von damals noch einmal Rückschau. Morgen huldigen sie in der Samariterkirche den Bluesmessen. Es wird diskutiert. Es gibt Livemusik, und Sketche werden nachgespielt, die schon vor 25 Jahren vor dem Altar abliefen.
Was heute wie ein nostalgisches Event anmutet, war seinerzeit eine in vieler Hinsicht gewagte Veranstaltung. Der Mix aus Popkultur, Politik und Religion sorgte schnell für Aufsehen, natürlich auch bei den staatlichen Aufsehern, denen das offenherzige Programm überaus suspekt war. Auch in der Kirchenleitung gab es Bedenkenträger, denen die staatskritischen Showeinlagen unpassend und zu riskant schienen, zumal der Ansturm der Besucher in den Gotteshäusern unschöne Spuren hinterließ. So toll es war, dass heidnische Jugendliche aus der ganzen DDR plötzlich den Weg ins Gotteshaus fanden – die langhaarigen, oft vom Alkohol beseelten Kuttenträger waren für die ordentlichen Gemeindemitglieder gewöhnungsbedürftig.
Auch Pfarrer Eppelmann musste die Kunden – so der Szenejargon – zu Beginn der Bluesmessen stets auf das Trink- und Rauchverbot hinweisen. Darüber hinaus war er jedoch froh über das unverhoffte Publikum. „Über 90 Prozent der Leute hatten bis dahin nichts mit der Kirche zu tun. Die kamen einfach wegen der Musik und weil hier öffentliche Kritik an den Verhältnissen in der DDR angesprochen wurde.“ Es ging um Fernweh, Probleme in der Schule oder die Verlogenheit der Medien.
Der Zulauf auf die Bluesmessen war so stark, dass sie letztlich in die Lichtenberger Erlöserkirche mit ihrem größeren Freigelände verlegt werden mussten. Die organisatorische Vorbereitung war da bereits eine halbprofessionelle Angelegenheit, um die sich etliche hauptberufliche Kirchenleute und bis zu 200 freiwillige Helfer kümmerten. Man brauchte Sanitäter, Ordnungskräfte und musste Übernachtungen organisieren, damit die Anreisenden nicht von der Polizei aufgegriffen wurden.
Zu den hauptverantwortlichen Organisatoren zählte Ralf Hirsch. Er wurde 1988 aus der DDR ausgewiesen und arbeitet heute in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. „Der Massenandrang war so gewaltig, dass wir einmal gleich vier Bluesmessen hintereinander durchführten. Da gingen die Leute hinten aus der Kirche raus und vorn kamen schon die nächsten rein, insgesamt so an die 8.000“, erzählt Hirsch. „Wir mussten die Leute beruhigen, wenn sie drängelten, und sie davon abhalten, dass sie einfach halbbetrunken in die Hausflure pinkelten oder staatliche Kräfte anpöbelten.“ Von denen gab es jede Menge. Als Polizisten und als auffällig unauffällige Vertreter der Stasi. „Der Staat wartete ja nur darauf, dass etwas passiert“, sagt Ralf Hirsch, „Die meisten Jugendlichen wussten, dass es die letzte Bluesmesse sein würde, wenn sie hier Mist machen würden.“
Auch Journalisten aus Westdeutschland waren neugierig und schauten häufig vorbei. Aber selbst als Provokateure in der Kirche Buttersäure verspritzten, blieb das Publikum besonnen. Es harrte im Gestank mit Tuch vor der Nase aus.
„Holly war am besten“
Im Laufe der Jahre gastierte eine wechselnde Schar ostdeutscher Bluesmusiker, darunter Stefan Diestelmann, Freygang und Jonathan Blues Band. Damit gerieten sie ins Blickfeld der Stasi und riskierten Auftrittsverbote in der ganzen Republik. Andererseits hatten die Bluesmessen eine solche Popularität erreicht, dass manche Künstler vor allem kamen, weil sie diese Bühne für sich nutzen wollten. „Ich persönlich fand Holly immer am besten“, sagt Ralf Hübner, „denn der hat die Bluesmesse auch gelebt, bis er nach vielen Schikanen durch die Stasi 1981 in den Westen ausreiste.“
Günter Holwas, der nach einem langjährigen Kanadaaufenthalt heute am Berliner Stadtrand lebt, hat auf die von ihm initiierten Bluesmessen einen anderen Blick als die meisten kirchlichen Mitstreiter von einst, die vor allem ihre politische Bedeutung hervorheben. Der 55-Jährige, der nach einer verkorksten Kindheit und jugendlichen Kleinkriminellenkarriere in Köpenick autodidaktisch zum Bluesmusiker wurde, sah immer die Musik im Vordergrund. Ihm war der Blues wichtiger als die Liturgie. Das Ende der Bluesmessen nach 20 Veranstaltungen im Jahr 1986 bekam er nicht mehr mit. Er war inzwischen nach Nordamerika ausgewandert.
Dass die Blueskonzerte als Massenspektakel ausgedient hatten, lag vor allem am Zeitgeist. Die jüngere Aussteigergeneration hörte lieber Punk als Blues. Zudem hatten die Veranstaltungen ihre Exklusivität in Sachen Meinungsfreiheit verloren. Überall im Land bildeten sich kirchennahe Friedenskreise, in denen offen über die Misere in der DDR gesprochen wurde.
Ralf Hirsch sieht das Ende der Bluesmessen heute nüchtern: „Anfangs war es eine spontane Sache, aber am Schluss wurde immer mehr von kirchlicher Seite kontrolliert, und der staatliche Druck wuchs. Also ließen wir es irgendwann lieber ganz sein. Wir waren nicht traurig über das Ende. Es war eine schöne Zeit, in der wir etwas Wichtiges getan haben.“ Und immerhin ist Rainer Eppelmann, der mit gewissem Stolz darauf verweist, durch die Bluesmessen „von der Stasi zum Staatsfeind Nummer eins“ geworden zu sein, auch ein wenig auf den Blues gekommen.