: Widerschein japanischer Realität
FOTOGRAFIE Das Museum für Kunst und Gewerbe zeigt eine Auswahl eher unbekannter Arbeiten japanischer Fotografen. Schöpfen kann es aus einem großen Fundus: der größten Museumssammlung außerhalb Japans
von Hajo Schiff
Sha Shin lautet die japanische Zeichenkombination für Fotografie. Das bedeutet in etwa: „Widerschein der wahren Realität“. Dabei klingen die Begriffe Kopie und Duplikat mit, auch der Gedanke, dass ein Foto nur eine Leihgabe der Wirklichkeit ist. Oder eine poetische Interpretation. „Japanische Tagträume“ nennt das Museum für Kunst und Gewerbe seine Auswahl von 30 Fotografien, die aktuell als achte Ausstellung in der kleinen Reihe „Die Sammlung Fotografie im Kontext“ zu sehen ist.
Dabei geht es nicht um inzwischen so berühmte Künstler wie den Erotiker Nobuyoshi Araki oder Hiroshi Sugimoto mit seinen ruhigen konzeptuellen Bildern. Auch Dokumentarisches aus Kriegszeiten und den unruhigen 1960er-Jahren bleibt ausgespart. Zu entdecken sind neun bisher eher unbekannte Fotografen mit poetischen und reflexiven Arbeiten zwischen 1930 und 1982. Dafür konnte der Kurator Sven Schumacher aus einem großen Fundus schöpfen. Denn zwischen 1981 und 1985 entstand mit Hilfe des „Vereins der Freunde der Photographie“ eine Sammlung von 900 japanischen Foto-Arbeiten – das ist die größte Museumssammlung ihrer Art außerhalb Japans.
Das besondere Flair und die Tatsache, dass die japanische Fotografie zumindest damals noch relativ unbekannt war, mögen Gründe für dieses besondere Interesse des einstigen Direktors Heinz Spielmann gewesen sein. Für die Bedeutung der japanischen Fotografie spricht auch die eindeutige Spitzenposition der japanischen Fotoindustrie mit Marken wie Canon, Fuji, Konica, Minolta, Nikon und Olympus und das in Japan große Interesse für Fotografie samt einer ungewöhnlich hohen Anzahl von Fachzeitschriften.
Schon 1840 brachte ein holländisches Schiff erstmals eine Daguerreotypie nach Japan. In der Meiji-Kaiserzeit zum Ende des 19. Jahrhunderts galt die Fotografie dann als eine der „sieben Werkzeuge“ zur angestrebten Europäisierung des Landes. Dabei blieb allerdings lange die Sichtweise der traditionellen Bildholzschnitte Ukiyo-e vorherrschend und eine Handkolorierung der Fotografien war üblich. Erst spät dominierten Realismus und Surrealismus.
Aus dieser Zeit stammen die ersten Bilder dieser Ausstellung: ein die Moderne mit ungegenständlichen Lichtreflexen feiernder Zyklus von Kanbei Hanaya aus den 1930er-Jahren. Nach dem Krieg inszeniert Shoji Ueda in den gleißenden Granitsanddünen von Tottori surreal vereinzelte Gruppierungen von Menschen, die in einer gewissen existenzialistischen Entfremdung mit Spazierstock und Pfeife, mit Violine und Baseball neue Rollen einzuüben scheinen. In der Inszenierung durch Irie Taikichi eher unwirklich wirken auch die als Motiv durchaus historischen, lebensgroßen Bunraku-Puppen, wie sie im Figurentheater in Osaka aufgenommen wurden. Die Figuren einer über 300-jährigen Tradition werden hier expressiv vergegenwärtigt.
„Für den Augenblick leben, Mond, Kirschblüten und Ahornblätter betrachten …“, solche traditionellen Haltungen des Ukiyo sind in Japan nie ganz vergessen. Für derartige müßiggängerische Konzentration auf die Umgebung, die fast religiöse Suche nach Schönheit im Alltag, mag die Serie „Passing Time“ stehen: Von Bild zu Bild langsam stärker abperlende Wassertropfen an einem beschlagenen Fenster. Masamichi Harada setzte 1981 eine Alltagsbeobachtung aus der schwülen Zeit des unbeliebten frühsommerlichen „Pflaumenregens“ um. Höchst trocken dagegen Toshio Shibata: Er fotografiert Sandstrukturen, bis auf seinen Bildern die damals technisch bedingte Fotokörnung und die dargestellten Sandkörner identisch zu werden scheinen.
Ebenfalls in den 1980er-Jahren setzt der Bildhauer Akira Komoto Plastiken fotografisch in Szene. Bei seinen Objekten wie einer großen Schaufel oder speerspitzen Nadelmonumenten ist nicht erkennbar, ob sie reale Skulptur-Objekte zeigen, optische Tricks sind oder in der Dunkelkammer erstellte Manipulationen. Den Gipfel der Reflexion über die Möglichkeiten, die wahre Realität im Bild aufscheinen zu lassen, erreichen die ruhigen, zugleich unspektakulären und vertrackten unbetitelten Fotos von Satoshi Saitou: Fotografierte Wirklichkeitsausschnitte, hier eine Zimmerecke oder ein Balkongeländer, werden am Ort ihrer Entstehung mehrfach überlagernd positioniert und wiederum abfotografiert.
Was aber ist speziell japanisch an der „japanischen Fotografie“? Auf jeden Fall sind es die Fotografen und teils die Motive. Begriffe wie „Unmittelbarkeit“ und „Empfindsamkeit“ werden manchmal bemüht, um innerhalb einer großen Vielfalt die Eigenheiten zu beschreiben. Auch ist in Japan die Spannung zwischen Innovation und Tradition besonders stark. Der dort immer vorhandene kulturelle Hintergrund der hochgradigen Alltagsästhetisierung trifft auf die Sachlichkeit des weitverbreitetsten und internationalsten Bildmediums Fotografie. Zur Deutung kommt es weniger auf mögliche nationale Eigenschaften an, sondern auf die subjektive Auswahl und den eigenen Blickwinkel. So kann der Untertitel „Fotografie im Kontext“ ja auch gelesen werden.
„Japanische Tagträume“: bis 10. Juli, Museum für Kunst & Gewerbe
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