Die aggressive Kraft der Familie

Premiere Die neue Inszenierung von Samir Akika & Unusual Symptoms am Theater Bremen verabschiedet sich vom Filmischen –hin zu einem puristischen Tanzabend

Neue Gesichter von der Folkwang-Hochschule bereichern Samir Akikas Ensemble: Tänzerin Szu-Wei Wu Foto: Jörg Landsberg/Theater Bremen

von Jan Zier

Eine Hochzeit, vielleicht. Zwei Handvoll Männer und Frauen, untypisch festlich gekleidet für eine Samir-Akika-Choreografie: er im Anzug, sie im Abendkleid. Es läuft keine Musik. Während die letzten Gäste kommen, beginnen sie, die eben noch dasaßen wie eine brave Affenfamilie, zu toben und zu rangeln.

Das ist der Beginn von „The Maidenhair Tree & The Silver Apricot“, der neuesten Arbeit des Hauschoreografen des Bremer Theaters und seiner Truppe „Unusual Symptoms“. Und wenn Sie sich nun unter dem ebenso blumigen wie kryptischen Titel nichts vorstellen können: Das wird auch nicht besser, wenn Sie das Stück gesehen haben. Der „Maidenhair Tree“ ist ein Ginkgo-Baum, der immer wieder bildende KünstlerInnen inspiriert und mehrere Tausend Jahre alt werden kann. Er gilt als kraftspendend und lebensverlängernd, in China und Japan wird die Pflanze zudem als heilig verehrt, und ist Gegenstand zahlreicher Mythen und Volkserzählungen.

Um es kurz zu machen: In diesem Stück geht es um die Familie, irgendwie, im Grunde aber um zwischenmenschliche Beziehungen im Allgemeinen. Das kennen wir schon von früheren Arbeiten Akikas, „Me & My Mom“ etwa, aber anders als jene hat „The Maidenhair Tree & The Silver Apricot“ kaum autobiografisches. Auch das stark erzählerische, filmische seiner letzten Arbeiten „Einer flog übers Kuckucksnest“ und „Die Zeit der Kirschen“ fehlt hier fast völlig.

Die eineinhalbstündige Inszenierung hat keine klare Geschichte, sondern verbleibt in all ihren Episoden im Assoziativ-Ungefähren. Akika gibt seiner künstlerischen Entwicklung eine neue Richtung: perfektionistischer, dazu puristischer, aber zugleich stilistisch vielfältiger, wo es ums Tanzen geht. Und es bleibt eben etwas vage, was das Inhaltliche betrifft. Schauspiel, Pantomime oder Kabarett und Gesang haben nicht mehr so viel Platz wie früher. Da und dort blitzen sie aber doch noch auf. Als einer der Tänzer mit einem Klavierhocker zugange ist etwa, und anschließend sein Knie küsst, ehe ein weißer Elefant die Bühne betritt und dem Publikum wie ein Nummerngirl leere Blätter abreißt.

Den Sound der Inszenierung liefert, wieder einmal, eine Live-Band: Simon Camatta, Stefan Kirchhoff und Jayrope spielen zunächst Klangteppiche und Soundcollagen, nicht immer gleich Tanzbares, das wie improvisiert daherkommt, sich im Laufe eines Stückes aber auch ins Rockige oder Jazzige auswachsen kann. Mit den zehn brillanten TänzerInnen, darunter fünf AbsolventInnen der berühmten Essener Folkwang-Hochschule, die bisher nicht zum Ensemble gehörten, mit der Choreografie also harmoniert das durchweg ganz wunderbar.

Das heißt nicht, dass diese Familie eine harmonische wäre. Ganz im Gegenteil: Ehe sich das Stück in einem opulenten Schlussbild (Bühne und Kostüme: Nanako Oizumi) unerwartet in Wohlgefallen auflöst, unter einem riesigen, weihnachtsbaumartigen, blinkenden, voll behängten Gerüst – bis zu diesem Finale also wird die Familie vor allem von Kampf und Auseinandersetzungen beherrscht.

Die Inszenierung verbleibt ohne klare Geschichte im Assoziativ-Ungefähren

Das mag daran liegen, sagt Akika, dass er selbst ein Scheidungskind ist. Daran, dass er in einem Pariser Banlieue aufgewachsen ist, viele Konflikte ausfechten musste, ehe er Choreograf statt Physiklehrer werden durfte. Oder daran, dass sich das so eh besser tanzen lässt.

Die Konflikte laufen vielfach entlang der klassischen Geschlechterrollen. Am intensivsten zeigt sich der aggressive Grundton in einer großartigen Szene, sehr eindrucksvoll getanzt von Marie-Laure Fiaux: Sie ist ein schwarzes Schaf, Außenseiterin, vielleicht etwas psychotisch. Sie drängt die anderen von den Stühlen, greift sie immer wieder an, reißt sich Kleid und BH herunter, während die kleine Gesellschaft entsetzt ist, doch tatenlos bleibt.

Klassischer Paartanz und Ballettartiges haben in „The Maidenhair Tree & The Silver Apricot“ ebenso Platz wie Hip-Hop, Streetdance und Kampftanz – Athletisch-Sportliches und Filigranes. Den Gruppenszenen fehlt dabei meist die emotional packende Einheit, vielmehr sind sie ein komplexes, fein ausgearbeitetes Arrangement aus Einzelbildern. Auch wenn das Stück noch dichter sein könnte, wenn es etwas kürzer wäre: Das Publikum ist begeistert, zu Recht.

Nächste Aufführungen: 3. 4., 18.30 Uhr, 16., 20. und 22. 4., 20 Uhr, Theater am Goetheplatz