Die Lust am Wissensschnipsel

Theater Giganten der Geistesgeschichte, auf Puppengröße geschrumpft: Das Puppentheater Halle spielt Florian Illies’Roman „1913“

„1913“ in Halle: Drama in der Badewanne und Erzählerkollektiv Foto: Falk Wenzel

von Joachim Lange

Zur sogenannten Kulturinsel mitten in Halle gibt es mehrere Zugänge. Das von dem Schauspieler Peter Sodann vor 35 Jahren begründete und unter seinem Nach-Nachfolger Matthias Brenner künstlerisch prosperierende Eiland erreicht man auch vom charmanten Uniplatz aus. Von hier aus geht es auch ins intime Puppentheater. Das macht mit seinem aktuellen Stück der Uni Konkurrenz. Denn im Falle der jüngsten Bühnenadaption des Bestsellers „1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ von Florian Illies könnte das Theatervergnügen nämlich genauso als Geschichtslektion durchgehen.

Der Mode, aus Literatur Thea­ter zu machen, folgen die Spieler längst auch hier. Im Falle von Klaus Manns „Mephisto“ und Dostojewskis „Schuld und Sühne“ sogar mit zwei gelungenen Beispielen. Das Puppentheater, das in Halle nur in zweiter Linie den Publikumsnachwuchs anfüttert, nimmt sich selbst und sein Publikum ansonsten ganz erwachsen und ganz ernst. Mit der Theaterfassung von „1913“, die der Puppentheater-Chef Christoph Werner zusammengestellt und inszeniert hat, wagt es den Versuch, den Blick ins das Friedensjahr 1913, von dem heute jeder weiß, dass es das Vorkriegsjahr war, als eine Folge von szenischen Schnipseln von großem feuilletonistischem Reiz zu erzählen. Die Puppen bewegen sich auf den Spuren von Illies’Blicken in die Tagebücher der damaligen Künstler- und Politprominenz.

Dafür hat Louise Nowitzki (die neben Franziska Ratty, Ivana Sajevic, Nico Parsius und Christian Sengewald auch mitspielt) hinreißend wiedererkennbar kleine Puppen gebaut und auf verschieden hohe Spielpodeste platziert. Dort warten dann Geistes- und Wissenschaftsgrößen wie Thomas Mann, Arnold Schönberg und Sigmund Freud auf ihren Einsatz. Der Literaturgigant Thomas Mann gibt die selbstverliebte Diva, referiert seinen durchregulierten Tagesablauf und hat panischen Angst vorm Kritikerpapst Alfred Kerr. Der Komponist Schönberg versteckt sich bei seinen Panikattacken vor der Zahl 13 in einem Sack und erfindet konsequenterweise die Zwölftonmusik. ­Sigmund Freud ist auf seine Katze und auf seinen Kollegen Jung fixiert, in dem er seinen potenziellen (Vater-)Mörder sieht.

Else Lasker-Schüler schaukelt gern und lässt ihre Künstlerfreunde für die Ausbildung ihres Filius sammeln (mit damals nicht verkaufter Kunst, die es heute auf einen Marktwert im dreistelligen Millionenbereich bringt). Die als besonders sensibel bekannten Künstler wie Kafka oder Rilke sind damit beschäftigt, aus ihrem Leiden an der Welt (und an den Frauen und an sich selbst) Kunst zu machen, während Oskar Kokoschka seine kreativen Schübe nur dann bekommt, wenn er über Alma Mahler herfällt oder sie über ihn.

Der Komponist ­Schönberg versteckt sich bei seinen Panik­attacken vor der Zahl 13 in einem Sack und erfindet konsequenterweise die Zwölftonmusik

Das ist ein fabelhaftes Feuerwerk von biografischen und anekdotischen Schnipseln, die hier von der Zeit zusammengewürfelt werden. Dass sich im Jahr 1913 hinter der künstlerischen Moderne auch noch etwas anders zusammenbraut, machen die Auftritte der in Österreich-Ungarn und im deutschen Reich regierenden Majestäten Franz Josef, nebst ewigem Thronfolger Franz Ferdinand, und Wilhelm II. klar. Der eine als Witwer seiner Sisi schon nicht mehr ganz von dieser, der andere, preußisch knarzend, in seiner eigenen Zack-zack-Welt. Man kann die beiden auch als Verweis auf den anderen Bestseller zum Ersten Weltkrieg, Christopher Clarks „Die Schlafwandler“, verstehen.

Noch weiter vor greifen die beiden Nachwuchsdiktatoren: Hitler und Stalin. Die hätten sich 1913 durchaus im Park von Schönbrunn begegnen können. Der eine als scheiternder Maler, der anderer als russischer Emigrant auf der Durchreise. Sie haben ihre Auftritte, werden dann aber, sozusagen als vorausgreifende Wertung, in der Bodenklappe eines der Podeste entsorgt.

Das ist ein kurzweiliges Episodenpingpong, bei dem die Puppenspieler den charismatischen Männern und Frauen, die sie an ihren kleinen Puppenkörpern und Köpfen führen, tatsächlich nur die Stimme leihen und ansonsten deren Aura wirken lassen. Sie setzen dabei auch auf das Wissen des Publikums um das Danach. Wie ein Leitmotiv unterbrechen Meldungen über die damals gestohlene, dann wiedergefundene und im Triumphzug in den Louvre zurückkehrende Mona Lisa die Collage. Und nicht zuletzt lassen es sich alle fünf fabelhaft schauspielernden Puppenführer nicht entgehen, in einer kollektiven Ansprache an das Publikum ironisch und selbstironisch mit dem wissenseitlen Autor Florian Illies umzugehen.