: Zwischen Bridge und Barrikade
REBELLEN Die SeniorInnen in der Stillen Straße in Pankow haben ein aufregendes Jahr hinter sich. Doch auch nach der erfolgreichen Besetzung ihrer Freizeitstätte gibt es viel zu tun. Denn die verwalten sie nun komplett selbst. Ein Besuch
DORIS SYRBE, EHEMALIGE REBELLIN
VON JULIANE WIEDEMEIER
Doris Syrbe steht in der Küche und diskutiert. Ja, die Sportgruppe kann jetzt in ihren Raum im Keller gehen. Nein, der obere Stock ist derzeit gesperrt, da darf niemand hoch. Die Kaffeegruppe kommt später. Wer lässt die Leute von der Volkssolidarität rein? Und ob sich die Journalistin nicht einfach schon mal in den Nebenraum setzen und kurz warten mag? Ihre 72 Jahre merkt man der wendigen Dame mit den roten Haaren, dem violetten Pulli und dem grünen Lidschatten nicht an. Die Aufregung vom vergangenen Sommer scheint ihr gut bekommen zu sein.
Anfang Juli hatte Syrbe mit einigen MitstreiterInnen die Freizeitstätte in der Stillen Straße 10 in Pankow besetzt – aus Protest, weil der Bezirk die sanierungsbedürftige Einrichtung abwickeln wollte. 111 Tage lang harrten sie aus. Syrbe schaffte es nicht nur als „Occupy Oma“ in die weltweite Presse. Die renitenten Rentner erreichten auch, dass sich mit der Volkssolidarität ein freier Träger fand, der das Angebot in Zukunft erhalten will.
Man könnte meinen, dass nach dem Trubel um die Besetzung Ruhe einkehrt in der Stillen Straße. Doch auch jetzt gibt es wieder viel zu tun: Seitdem das Bezirksamt die 30-Stunden-Kraft gestrichen hat, die hier bislang angestellt war, müssen die ehemaligen BesetzerInnen den Laden allein am Laufen halten. „Wir haben lauthals geschrien, dass wir das ehrenamtlich hinbekommen – jetzt muss das auch klappen“, sagt Syrbe.
Sie hat sich inzwischen auf einem der aus der Mode gekommenen Esszimmerstühle niedergelassen, die überall in der Stillen Straße 10 in Gebrauch sind. Im Raum nebenan trifft sich jetzt die Malgruppe, im Keller wird geturnt, in der Küche wird eine Weihnachtsfeier vorbereitet – was man so macht als alter Revoluzzer. „Zwischen 9 und 17 Uhr ist hier jeden Tag Betrieb“, erzählt Syrbe.
Die Nebenkosten für das Haus zahlt die Volkssolidarität, um alles andere müssen sich die Rentner selbst kümmern. Aufschließen, Abschließen, Küchendienst und Putzen, alles muss koordiniert werden. „Da stehen jetzt Arbeiten an, von denen wir gar nicht wussten, dass es sie gibt“, sagt die 72-Jährige.
Die meiste Zeit ihres Lebens hätte Syrbe selbst nicht daran geglaubt, einmal an vorderster Front gegen den Staat zu kämpfen. In den 1950er Jahren lernte sie in Brandenburg zunächst den Beruf der Imkerin, später wurde sie im Fernstudium Ingenieurökonomin und arbeitete im Amt für Materialwirtschaft. Seit 15 Jahren ist sie im Vorruhestand, fast genauso lange kommt sie schon in die Seniorenfreizeitstätte, für deren Erhalt sie auf die Barrikaden ging. Heute ist sie Vorsitzende des neu gegründeten Fördervereins.
Jeder, der in die Stille Straße 10 kommt, muss bereit sein, sich einzubringen, erzählt Syrbe. Zudem wird gerade ein kleiner Mitgliedsbeitrag von einem Euro im Monat eingeführt, um wenigstens etwas finanziellen Spielraum zu haben. „In unserem Alter kann man einfach nicht mehr alles machen – Fenster putzen zum Beispiel“, sagt Syrbe.
Politische Strategie fehlt
Dennoch zweifelt niemand in der Stillen Straße daran, dass der Betrieb in Eigenregie funktioniert – auch die zehn Damen im Nebenraum nicht. Seit fast zwanzig Jahren treffen sie sich immer donnerstags in der Stillen Straße, um gemeinsam zu malen. Jede Woche steht ein anderes Thema auf dem Plan, mal Porträts, mal Stillleben und mal Landschaften. Im Sommer wurde das Repertoire dann kurzzeitig um Transparente und Plakate erweitert. Heute sind sie mit Blumen in Öl wieder bei einem klassischen Motiv angelangt.
„Wir organisieren uns. Man macht ja nicht alles allein“, sagt Ursula Trost. Auch sie war bei der Besetzung dabei, hat Küchendienst geschoben und Interviews gegeben. Die Gruppe wäre auseinandergefallen, wäre es nach dem Willen des Bezirks gegangen, glaubt sie. Zwar gab es für die Malerinnen schon einen Ausweichtermin, freitags in einer Einrichtung ein paar Straßen weiter, doch für die Rentnerinnen war der nicht kompatibel. „Auch wir haben Verpflichtungen, etwa weil wir uns um unsere Enkelkinder kümmern müssen“, erklärt Trost. Die Politik habe das bei ihrer Suche nach Lösungen nicht berücksichtigt. Ihre Malkollegin Ilse Schröder kommt zu dem Fazit: „Der Bezirk hat sich einfach schäbig verhalten.“
Lioba Zürn-Kasztantowicz, so heißt die Frau, die den Ärger der SeniorInnen in den vergangenen Monaten am meisten zu spüren bekam. Die SPD-Politikerin ist Sozialstadträtin im Bezirk Pankow und als solche für die Abwicklung der Stillen Straße verantwortlich. Dass es dort nun trotzdem weitergeht, freut sie. Was ihr jedoch weiterhin Sorge macht, ist der Mangel an Nachhaltigkeit dieser Aktion: Der Bezirk habe viele Einrichtungen mit ähnlichen Problemen. Das Lösungsmodell der Stillen Straße sei aber nicht auf viele Fälle übertragbar, sagt sie.
„Pankows Bevölkerung wächst, wir haben einen demografischen Wandel, aber immer weniger Geld zur Verfügung“, sagt Zürn-Kasztantowicz. Natürlich müsse der Bezirk ausreichend soziale Infrastruktur anbieten. Doch wie das mit den knappen Finanzen bei steigendem Bedarf gelingen solle, dafür fehle bislang die Gesamtstrategie. Im politischen Alltagsbetrieb, zerlegt in Wahlperioden und Haushaltsjahre, bleibe kaum Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, so Zürn-Kasztantowicz. „Der Staat ist in der Pflicht, für eine Grundausstattung zu sorgen“, meint die Stadträtin. Darum herum müssten sich aber alternative Angebote entwickeln, organisiert von freien Trägern, über Spenden, Stiftungen und ehrenamtliches Engagement.
Die Stille Straße war also kein Einzelfall, sondern eher ein Ausblick auf das, was Berlin in den kommenden Jahren erwartet. Das glaubt auch Heidi Knake-Werner, die Vorsitzende der Volkssolidarität Berlin. „Das Land macht sich von Verpflichtungen frei. Ich nehme an, dass derartige Auslagerungen zunehmen werden“, sagt sie. Die Übertragung auf freie Träger sei aber keine Patentlösung. Die Volkssolidarität stoße schon mit der Finanzierung dieser einen Einrichtung an ihre Grenzen. „Die nötige Sanierung können wir nur mit Spenden bezahlen“, sagt Knake-Werner. Sie hofft, dass dank der Popularität der Stillen Straße genug Geld hereinkommt.
Damit die Einrichtung finanziell überleben kann, setzt die Volkssolidarität auch auf interne Änderungen. An Kooperationen mit anderen Trägern ist dabei ebenso gedacht wie daran, das Haus für jüngere Generationen zu öffnen. Dazu sind die SeniorInnen gern bereit. Es ist ihnen nur recht, wenn sich die ehrenamtliche Arbeit auch auf die Schultern Jüngerer verteilt. Allen ist zudem klar, dass die Stille Straße wieder um ihre Zukunft bangen müsste, sollte das Projekt für die Volkssolidarität doch zu teuer werden.
Das kommende Jahr ist aber erst mal gesichert. Die Volkssolidarität wird es nutzen, um mit dem Bezirk einen Erbpachtvertrag abzuschließen und Geld für die anstehende Sanierung zu sammeln. Aus Gründen des Brandschutzes darf die erste Etage des Hauses derzeit nicht betreten werden, Bridge- und Schachraum sind völlig verwaist. Hier müssen eine Feuertreppe und ein Aufzug angebracht werden, damit man die Einrichtung wieder in Gänze nutzen kann.
Die aufsässigen Rentner sind überzeugt, dass sie auch das gewuppt bekommen. „Wer nicht kämpft, hat schon verloren“, sagt Doris Syrbe. Das habe sie in den letzten Monaten gelernt. Zwar sei sie nach diesem aufregenden Jahr gerade ein wenig erschöpft. Aber insgesamt gehe sie durchaus gestärkt aus ihrer Zeit als Hausbesetzerin hervor: „Ich wurde aus meinem immer gleichen Fahrwasser herausgerissen und habe eine ordentliche Portion Selbstbewusstsein hinzugewonnen“, sagt sie. Kein Wunder, schließlich haben die alten Herrschaften eine der wenigen geglückten Hausbesetzungen im Berlin der letzten Jahre durchgezogen.
Von diesem Erfolg sollen nun auch andere profitieren: Die BesetzerInnen der Stillen Straße touren derzeit durch Berlin, um anderen Mut zu machen, ob Gentrifizierungsopfern in Kreuzberg oder einer bedrohten Senioreneinrichtung im Wedding. „Wir haben Solidarität erfahren, und die wollen wir jetzt auch zurückgeben“, erklärt Syrbe. Zeit für Zuspruch müsse sein, auch wenn die Stille Straße selbst schon genug Arbeit mache. Eins sei aber auch klar, in ihrem Alter: „Ich muss jetzt nicht jedes Jahr ein Haus besetzen.“