Völlig losgelöst

Umgedreht Beim Aerial Yoga tauschen Teilnehmer ihre Matten gegen Akrobatik-Tücher und hängen kopfüber von der Decke

Kein Kontakt zum Boden: Dorina Maltschewa zeigt, wie man sich richtig ins Yogatuch eindreht Foto: Miguel Ferraz

Fünf Frauen hängen kopfüber in Akrobatik-Tücher eingedreht von der Decke. Ihre Beine sind fest um die Stränge des Tuches gewickelt, die Hände wie bei einem Sit-up neben dem Kopf angewinkelt. Sie ziehen den Oberkörper hoch, gucken zwischen ihren Beinen hindurch. „Macht mindestens acht Crunches, aber in Eurem eigenen Tempo“, weist Yoga-Lehrerin Dorina Maltschewa die Teilnehmerinnen an.

Seit zwei Jahren gibt die 42-Jährige solche Aerial-YogaKurse. Der Trend aus den USA basiert auf dem therapeutischen Yoga. Dabei werden die Yogis bei ihren Übungen von Seilen stabilisiert. Beim Aerial Yoga lösen sich die SportlerInnen von der Schwerkraft. Das Tuch, in dem sie sich dehnen, ist aus festem, aber weichem Stoff und erinnert an eine Hängematte.

Unter den Tüchern liegen Matten im großen, hell gestrichenen Studio. Die Fensterfront führt auf eine gepflegte Terrasse. In einer Ecke stehen Kräuter-Tee, eine Wasserkaraffe und Duftöle. Aus einem Lautsprecher kommt Musik, die sich aus monotonem Gesang und Klangschalen-Tönen zusammensetzt.

Präzise beschreibt die Leiterin die Übungen, zeigt sie selbst, geht dann herum, um jeder Teilnehmerin Tipps und Hilfestellung zu geben. Die zwei Neulinge im Kurs zögern noch, sich kopfüber fallen zu lassen. Malt­schewa kann sie beruhigen: „Niemand fällt einfach so aus dem Tuch. Das ist noch nie passiert.“

Die beiden neuen Frauen trauen sich: Noch sitzen sie in dem Tuch wie in einer Schaukel, stützen sich dann aber mit den Füßen auf dem Boden ab und rollen sich in die gefürchtete Umkehrhaltung. Diese akrobatischen Bestandteile sind das Besondere am Aerial Yoga: „Man kann sich wieder als Kind fühlen, ein paar verrückte Sachen versuchen“, sagt Maltschewa. „Wenn man das zwei, drei Mal gemacht hat, fühlt man sich federleicht.“

Die Teilnehmerinnen, die schon öfter da waren, erkennt man leicht: Sie fangen selbstständig mit komplizierten Übungen an – wie die „Fledermaus“. Sie rollen sich in das helllila Tuch ein, drehen und wenden sich, bis sie in Bauchlage über dem Boden schweben. Keine Chance für Anfänger, aber bei fast jeder Position zeigt Maltschewa eine Variation für Fortgeschrittene und eine für Anfänger. Sie betont, dass jeder und jede die Übungen auf dem eigenen Level machen solle. Das Prinzip geht tatsächlich auf: Die Neulinge sind zwar skeptisch, doch selbst die Crunches in Umkehrhaltung sind kein Problem.

Die Stunde endet mit einer Meditation. Die fünf Teilnehmerinnen setzten sich in ihre Tücher hinein, schwingen wie in einem Kokon über dem Boden, atmen synchron ein und aus. Maltschewa geht mit einem Duftöl zu jeder Teilnehmerin und massiert mit kreisenden Bewegungen ihre Schläfen.

So in den Tüchern zu hängen, macht nicht nur Spaß, sondern hilft auch der Gesundheit: „Das mag banal klingen, aber Yoga hilft fast überall, wo man’s macht“, sagt Andreas Michalsen, der als Arzt in Berlin am Immanuel Krankenhaus und an der Charité arbeitet. Seit 2005 untersucht er die medizinische Wirksamkeit von Yoga.

Die Übungen würden „keinen Krebs heilen, aber es hilft bei Tagesmüdigkeit und verbessert die Lebensqualität bei Krebserkrankungen“, sagt er. Auch bei der Behandlung von Bluthochdruck sei Yoga sinnvoll. Bei Rücken- und Nackenschmerzen sei es mitunter sogar „die beste Therapie“, ist der Mediziner überzeugt. „Schmerzen entstehen meist aus einer Kombination von Fehlhaltung durch Computerarbeit, Bewegungsmangel und vor allem Stress.“ Yoga helfe so gut, weil es zugleich Sport, Dehnung, Meditation und Atemkontrolle sei.

Dorina Maltschewa hat damit auch selbst schon Erfahrungen gemacht: Nach einer Operation am Knie machte sie zusätzlich zur Krankengymnastik Yoga. Das habe ihr bei der Heilung geholfen. Bis vor zehn Jahren fand sie den Sport aber „eigentlich immer doof“.

Doch damals suchte die ausgebildete Schauspielerin nach einem Ausgleich zu ihrem Job. Eine Freundin schleppte sie zu einem Kurs mit. So kam Maltschewa zum Bikram Yoga. Noch so ein Extrem: Die Übungen werden bei Temperaturen um die 40 Grad absolviert. Später versuchte sie es auch mit Vinyasa Yoga. Dabei gehen die Bewegungen besonders fließend ineinander über.

„Niemand fällt einfach so aus dem Tuch“

yoga-Lehrerin Dorina Maltschewa

Dabei blieb sie hängen. Seitdem arbeitet Maltschewa selbstständig im Studio „Flying Yoga“. Nebenher steht sie auf Theaterbühnen und vor der Kamera. Außerdem organisiert sie Yoga-Reisen.

An ihren Kursen nehmen ganz unterschiedliche Menschen teil. Junge und Alte, Männer und Frauen, manche sind gesund, andere haben Beschwerden. Ihre Motivation ist ganz unterschiedlich: „Manche kommen in die Stunde, weil sie gestresst sind von ihrem Freund, der Familie oder von ihrem Arbeitgeber“, sagt Maltschewa. Andere wollten sich körperlich auspowern.

Dazu gehört auch eine der Frauen in diesem Kurs. Sie kommt jede Woche. Durch das Yoga könne sie ihren Rücken stärken, sagt sie nach dem Training. „Das ist wichtig für den Alltag.“ Das sieht auch Maltschewa so. Die Kursleiterin ist mit ihren 1,54 Metern eine der kleinsten Frauen im Studio. „Danach fühle ich mich gestrafft, gestreckter und lang“, sagt sie und lächelt. „Das ist die einzige Sportart, bei der man Energie bekommt, statt sie dann nicht mehr zu haben.“

Aerial Yoga verändere aber nicht nur die Körperhaltung: „Dadurch, dass du deinen Körper besser spürst, kannst du auch mit anderen Menschen besser umgehen“, sagt sie. „Leute, die Yoga machen, sind offener – oder sie werden es.“