: Alles Hollywood
Der eine, Norbert Blüm, glaubt die Geschichte mit dem Kind in der Krippe. Mit dem Stern über Bethlehem, den Hirten und dem Stall. Der andere, Rolf-Peter Henkel, hält sie für erstunken und erlogen und sagt: Alles Hollywood. Ein amüsanter Briefwechsel zu Weihnachten
von Peter Henkel und Norbert Blüm
Lieber Norbert Blüm,
Gestern, am Heiligen Abend, waren wir in unserer zweiten Heimat, in Bad Ischl, in der Pfarrkirche. Überfüllt mit tausend Leuten, darunter auffallend viele Jüngere. Das Salzkammergut ist eine ziemlich fromme Gegend. In schätzungsweise 96 von 100 Todesanzeigen heißt die Standardformel, Gott der Herr habe den Verstorbenen zu sich gerufen.
Im Sprechgesang trägt der Stadtpfarrer die Weihnachtsgeschichte vor, nach dem Evangelium des Lukas. Ohne diese zu Herzen gehende Erzählung täte sich die abendländische Religion wohl um einiges schwerer, die Gemüter der Menschen zu erreichen. Zusammen mit all dem Drumherum dieser Tage muss (und soll) sie zumal auf Kinder bleibenden Eindruck machen. Aber auch die Erwachsenen sind ja eben deshalb hier: um einmal mehr diese vertraute, erhebende Geschichte zu hören, eine, die wahrlich keine Nebensächlichkeiten enthält, sondern das, was den christlichen Glauben im Kern so anziehend macht – der Traum, dass das von Gott gewollte Gute die Oberhand behält über alles Böse, alles Elend, alle Not, alle Vergänglichkeit.
Leider ist die Geschichte falsch. Erfunden von A bis Z.
Was aber ist nun von einem Glauben zu halten, der die Menschen überzieht und lockt mit einem rührseligen Märchen? Von einer Theologie, die auf diese gezielt konstruierte Geschichte vom Gottessohn in der armseligen Herbergskrippe eine gewaltige Christ-der-Retter-ist-da-Mythologie türmt? Von einer Kirche, der auch vorsätzliches Irreführen und Ausnutzen der Arglosigkeit eines unwissenden Publikums als Mittel gerade recht sind? Von Gläubigen, denen es egal zu sein scheint, womit sie sich in eine feierliche Stimmung versetzen lassen?
Denn die Fakten, sie sind nun mal so. Bestürzend wenig haben sie mit dem zu tun, was uns die Evangelien des Markus, des Lukas und des Matthäus so überliefern, als wäre es so gewesen. Jesus wurde aber wohl nicht in Bethlehem geboren, sondern – vermutlich – in Nazareth, dem Wohnort seiner Eltern, und unter wohl höchst unspektakulären Umständen. Die von Kaiser Augustus in Rom befohlene Volkszählung fand, wenn überhaupt, einige Jahre später statt, und der von Herodes veranlasste Mord an allen männlichen Neugeborenen in Judäa, um jenen Messias auszuschalten, gar nicht. Einen Stall als Geburtsort gab es so wenig wie die Hirten auf dem Felde, den berüchtigten Stern (wie kann ein Stern hoch oben am Himmel auf ein einzelnes Gebäude zeigen?) oder die drei Weisen aus dem Morgenlande. Und dass Maria ein Engel erschien, der ihr die Geburt eines vom Heiligen Geist gezeugten Sohnes ankündigte, kann guten Gewissens ebenso abgebucht werden als pure Erfindung, wenngleich eine, die wie manch anderes der biblischen Fantasieprodukte dem magischen Zeitgeist der Region entstammt.
Um nur zwei kleine Beispiele zu nennen: Bethlehem wurde vermutlich nur deswegen als Geburtsort in die Geschichte hineingeschmuggelt, um gemäß alten jüdischen Prophezeiungen den Wanderprediger aus Nazareth als Nachfahren jenes Königs David hinstellen zu können, der dort geherrscht und tausend (!) Jahre zuvor bei den Israeliten ein gewisses Ansehen erworben haben soll, zum Beispiel durch sein sagenhaftes Duell mit Goliath. Dabei agierte dieser David – wenn er denn überhaupt als historische Person lebte, was umstritten ist – immer mal wieder als übler Geselle und notorischer Kriegstreiber. Er war achtmal verheiratet und ließ den Mann einer von ihm begehrten Frau in den Soldatentod schicken, um die Witwe zu heiraten.
Im Übrigen: Wieso wird für Jesus eine königliche Abstammung „aus dem Hause David“ beansprucht, wenn er doch gar keinen leiblichen Vater hatte? Und hatte uns die Geburt im Stall nicht imponieren sollen als Ausdruck radikaler Ferne von Macht, Besitz und überhaupt jedweder Äußerlichkeit?
Schließlich: wenn das Lukas-Evangelium Jesu Ahnenreihe lückenlos zu dokumentieren vorgibt – 42 männliche Vorfahren zählt es namentlich bis zum König David auf, 34 (!) weitere bis Adam –, dann spricht auch das Bände hinsichtlich der Verlässlichkeit und Wahrheitsliebe seiner Autoren. Genauer gesagt, wir haben es mit dreister Aufschneiderei zu tun.
Ihr und den vielen anderen Manipulationen liegen aber Interessen zugrunde. Die Verfasser der Evangelien oder der Apostelgeschichte wollten (und mussten) die ihnen weitgehend unbekannte reale Biografie des Jesus aus Nazareth aufwerten mit allerlei effektvollen Zutaten. Deshalb schildern sie – höchst fragwürdige – Wunder oder Heilungen wie historisch gesicherte Ereignisse; deshalb erwecken sie Jahrzehnte später den falschen Eindruck eigener Augen- und Ohrenzeugenschaft; deshalb legen sie dem Messias Gleichnisse in den Mund, die einen früh gereiften Weisheitsprediger zeigen sollen; und deshalb betonen sie immer wieder, mit diesem oder jenem werde eine Prophezeiung aus dem alten Judentum erfüllt.
Und nun kommen die ganz Schlauen, allen voran unsere Theologen, und sagen: Diese Weihnachtsgeschichte ist wie so vieles andere in der Bibel doch nicht wörtlich zu nehmen. Sie muss richtig gedeutet werden, damit sie richtig verstanden werden kann. Und dafür zuständig sind wir.
Damit erreicht die Unredlichkeit ihren Gipfel. Wenn die Priester und Schriftgelehrten der Gemeinde wenigstens sagten: Wir hören nun aus dem Neuen Testament eine Geschichte, von der wir mittlerweile wissen, dass fast nichts daran stimmt – das verdanken wir übrigens kritischer Forschung und Wissenschaft, die uns zu Erkenntnissen verhalfen, die frühere Zeiten noch nicht haben konnten. Dennoch ist sie eine alte, ehrwürdige Fabel und will uns eine Menge wichtiger Dinge mitteilen, zum Beispiel dass Armut keine Schande ist und Jesus Christus ein Anwalt der Schwachen. Oder dass der Gott, an den wir glauben, ganz eigene Wege geht.
Fazit: Zuerst wird erfunden und gefälscht, dann wird Propaganda gemacht mit jenen emotionsbefrachteten Unwahrheiten, und zwar zwei Jahrtausende lang und ungemein erfolgreich, und schließlich schottet man sich konsequent ab gegen höchst unbequeme Erkenntnisse. Es bleibt ohne nennenswerte Folgen, dass die historisch-kritische Forschung sehr vieles von dem widerlegt oder in ernste Zweifel gezogen hat, was das Neue Testament uns wie Tatsachen nahebringen und obendrein auch noch verklären will als von Gott geoffenbart. Die Schar der Gläubigen erfährt davon so gut wie nichts.
So zieht die Karawane der Orthodoxie und der traditionellen Verkündigung weiter und kann tun, als wäre eh alles beim Alten und in Ordnung. Das aber ist inakzeptabel. Es verhöhnt das Gebot der Wahrhaftigkeit, und es verspottet die Menschen. Dass die Idee von deren Mündigkeit nicht preisgegeben werden darf für ein Linsengericht aus herzerwärmenden Illusionen, diesem Gedanken hängen Sie, lieber Norbert Blüm, ja gewiss ebenso an wie ich. Drüben, in der Ecke der guten Stube, in der ich das schreibe, steht übrigens ein Weihnachtsbaum. Wie jedes Jahr.
Ihr Peter Henkel
Sehr geehrter Herr Henkel,
also gut, des Menschen Wille ist sein Himmelreich: Wenn Sie auf dem Bolzplatz spielen wollen, dann „holze“ ich mit.
Einmal abgesehen von der schlichten Wahrheit, dass man antike Texte nicht wie eine moderne Nachrichtenmeldung lesen kann: Ich würde mich an Ihrer Stelle nicht so felsenfest auf Geschichtsforschung und Archäologie verlassen. Die Geschichtsschreiber korrigieren sich, solange es sie gibt. Das ist geradezu das Brot der Geschichtswissenschaft. Denn hätten sie alles endgültig klargestellt, müssten die Historiker längst kollektiv Hartz IV beantragen, weil sie dann allesamt arbeitslos geworden wären. Es gäbe nämlich nichts mehr zu forschen und zu widerlegen.
Die Archäologie ist auch nicht so sicher, sondern teilt in regelmäßigen Abständen ihre neuesten Standortergebnisse mit, und dabei revidiert sie oft ältere. Über die Lage Trojas ist man sich allerdings bis heute noch nicht einig.
Es ist richtig, es gibt klare Fehler und entlarvte Irrtümer auch in der biblischen Erzählung. Daneben gibt es aber auch zweifelsfreie und ganz erstaunliche historische Bestätigungen der Bibel. Und für manches, was Sie als konstruierte Geschichte bezeichnen, gibt es sogar Indizien, dass es real ist.
Sogar der „Stern von Bethlehem“, über den Sie spotten, kann tatsächlich zu jener Zeit am Himmel geleuchtet haben, vielleicht als Komet, wie Astronomen aus Rom, Ägypten, Babylon und sogar aus China berichten. Astronomen sind penible Leute. Johannes Kepler entdeckte in der Weihnachtszeit 1603 jene Sternkonstellation, die in alten Texten für die Zeit vorausgesagt worden war, in welcher der Messias erscheinen sollte. Ist also auch der große Hofastronom und Mathematiker Kepler ein Mitverschwörer, gar ein Inspizient der betrügerischen Inszenierung, auf der Ihrer Meinung nach die Bibel beruht?
Auf das Fundament der Geschichtswissenschaft, die mit der Methode „trial and error“ arbeitet, würde ich jedenfalls nicht gerne meine ganze Glaubensexistenz bauen wollen. Da wüsste ich ja bis zum Schluss nicht, was ich für wahr halten kann. Da sind mir die biblischen Geschichten mit ihren Doppeldeutigkeiten lieber. In ihnen suche ich mit Vernunft und Vertrauen nach dem Kern der Botschaft der Bibel. Selbst im Beiwerk der biblischen Nachrichten entdecke ich dabei Wichtiges. Ob der Messias in Bethlehem oder Nazareth zur Welt kam, ist für mich nebensächlich. Aber dass er nicht am Hofe des Herodes in Jerusalem oder im Kaiserpalast in Rom geboren sein soll, sondern in einem Kaff, und dass Hirten sein erstes Hofpersonal waren, das bringt mich auf ganz verwegene Gedanken. Man kann die Weihnachtsgeschichte auch als eine Herausforderung an die Mächtigen lesen.
So neu ist die Erkenntnis nicht, dass die Bibel mit Widersprüchen gespickt ist und Ungenauigkeiten enthält. Für die Erschaffung Evas gibt es beispielsweise zwei Versionen: Einmal wird sie zusammen mit Adam geschaffen, und ein andermal wird sie aus der Rippe Adams gebildet. Dieser Widerspruch steht in der Bibel und ist kein Geheimnis. Jeder konnte und kann ihn dort finden. Und Mose erreicht in einer Version das gelobte Land; in einer anderen darf er es nur sehen. Solche Ungereimtheiten liegen offen zutage – und sind nie versteckt worden.
Das und noch viel mehr weiß die historisch-kritische Methode der Bibelkritik seit mehreren Jahrhunderten. Mit diesen Erkenntnissen sind ganze Bibliotheken gefüllt worden, und jede theologische Fakultät hat sie im Lehrangebot – Zugang frei.
Eine Sensation ist es also nicht, was Henkel triumphierend auftischt. Und zwar deshalb nicht, weil (erstens) auch die Bibelkritik noch weitere neue Erkenntnisse zutage fördern wird und weil (zweitens) die biblische Botschaft in ihrem Kern dadurch nicht verändert und schon gar nicht geschmälert wird.
Ich fasse Henkels polemische Kritik zusammen: Bethlehem ist gar nicht der Geburtsort Jesu, sondern wahrscheinlich Nazareth. Die Volkszählung von Kaiser Augustus fand ein paar Jahre später statt (wenn überhaupt). Die drei Weisen, die Hirten und der Stall sind allesamt Erfindungen.
Werter Gegenspieler Henkel, um es in der Sprache des Bolzplatzes zu sagen: Ob Jesus in Bethlehem oder Nazareth geboren wurde und ob Hirten dabei waren und drei Weise aus dem Morgenland angereist kamen und Engel jubelten und ob Jesus ein paar Jahre vor oder nach dem Jahre null zur Welt kam, vor, nach oder mitten in der Volkszählung – ehrlich gesagt: Es ist mir egal. (Auf dem Bolzplatz würde man sagen: „Es geht mir am Hintern vorbei.“)
Für mich ist das alles entscheidende Ereignis, dass Menschen den Heiland erwarteten, dass Gott Mensch wurde, dass eine neue Zeitrechnung begann.
Diese drei Botschaften sind der Kern der Weihnachtsbotschaft. Für Sie sind sie Hollywood? Ist für Sie auch alles weitere im Neuen Testament nur Hollywood? Jesu Verurteilung und Kreuzigung – Hollywood? Das leere Grab und die Auferstehung – Hollywood?
Vorsicht, lieber Henkel, unterschätzen Sie Hollywood nicht. Wie man ein Spektakel unter die Leute bringt, das hätte der Spielberg besser inszeniert, wahrscheinlich sogar an einem anderen Ort und zur anderen Zeit und mit großem Aufwand. Spielberg hätte dafür hervorragende Schauspieler eingesetzt, und diese Stars hätten das Beste ihrer Kunst gegeben (allerdings für viel Geld). Die Apostel gaben ihr Leben. Ja, das Leben! Petrus, den gab’s(!). Er starb den Märtyrertod. Paulus, den gab’s(!). Er starb den Märtyrertod.
Wenn das ganze Neue Testament, wie Sie behaupten, aus „Propaganda“, „emotionsbefrachteten Unwahrheiten“, „herzerwärmenden Illusionen“ besteht, haben sich die Erfinder des Betrugs anscheinend ein schlechtes Personal ausgesucht. Harmlose Fischer, verachtete Zöllner, Tuchmacher – kein Rabbi, kein Gelehrter war dabei. Auch kein reicher Mann. Paulus, der Intellektuelle, rühmte sich, dass er immer mit seiner Hände Arbeit, als Zeltmacher, sein Brot verdiente: alles bescheidene Leute, keiner aus dem Establishment. Für eine große Verkaufsshow gibt es geeignetere Promotoren. Mit zwölf Mann und einem scheinbar zusammengewürfelten Haufen als Management gründete der Chef Jesus eine Weltfirma. Das ist das Personal, welches Sie mal kurzerhand als gerissene Betrüger und Betrogene darstellen.
Auf so ein Drehbuch wäre in ganz Hollywood niemand gekommen. Betrüger, die den Betrug nicht durchschauen, mit dem sie die alten Mächte und Religionen aus den Angeln gehoben haben und für den sie Entbehrungen, Qualen, Folter und Tod erleiden, das ist mit Verlaub gesagt, Herr Henkel, ein ungewöhnliches Ensemble und eine überraschende Dramaturgie.
Ihr Norbert Blüm
Die beiden Briefe sind dem Buch „Streit über Gott“ entnommen, das der CDU-Politiker Norbert Blüm und der Journalist Peter Henkel im Herder Verlag veröffentlicht haben.