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Ein Glas Zukunft

HELLSICHT Angel liest in der Kugel, Sabuha in der Kaffeetasse. Beide wollen mit ihrer Gabe anderen helfen

Das soll das Morgen sein? Foto: Vanessa Gaigg

Die Zukunft liegt in einem Neubauviertel in Berlin-Schönefeld. Petra ‚Angel’ Aurich hat hier in einer Erdgeschosswohnung ihre Arbeitsstätte. Auf einem schweren Holztisch steht eine Kristallkugel, getragen von einem Fuß aus drei Messingelefanten. Daneben ein steinerner Buddha, Engelsfiguren und ein türkisches Nazar-Amulett.

Aurich ist Wahrsagerin. „Ich bin stark hellseherisch“, sagt sie von sich selbst. Sie legt Karten, liest in der Hand und in der Kristallkugel. Das erfordere ein hohes Maß sowohl geistiger als auch physischer Disziplin. „Zehn Jahre habe ich trainiert, minutenlang ohne zu blinzeln in die Kugel zu schauen – manchmal, bis mir die Tränen in die Augen geschossen sind.“ Die Zukunft des Kunden erscheine dabei nicht in Bildern in dem geschliffenen Kristall; die Kugel diene als Medium: Nachdem sie sie lange und konzentriert betrachtet habe, verfalle Aurich in eine Art „Trance“. „Vor meinem Auge verschwimmen die Lichtreflexe in der Kugel zu Farben.“ Diese Visionen interpretiert Aurich im Kontext mit der Persönlichkeit oder einer konkreten Frage eines Kunden. Helle Farben implizierten Positives, dunkle düstere Aussichten.

Deutlich direkter ist das Lesen der Hand – eine Kunst, die Aurich nach eigener Aussage noch nicht in Perfektion beherrsche. Gleichwohl gibt sie eine Kostprobe. „Die Hand muss gewölbt sein.“ Bei jungen Menschen seien die Linien fein und in der flachen Hand nur schwer erkennbar. Aurich fährt mit ihrem manikürten Fingernagel die „Lebenslinie“ entlang, die zwischen Daumen und Zeigefinger beginnt und zum Handgelenk hin abfällt. „Eine lange Lebenslinie deutet auf ein langes Leben hin.“ In Brüchen in der Linie will Aurich einschneidende Erlebnisse, wie etwa eine vergangene Trennung, erkennen.

Das Kartenlesen brachte Aurich nach dem Tod ihrer Tochter zur Esoterik. Ihr sei bewusst geworden, dass sie ein natürliches Talent für das Legen und Interpretieren der Karten habe. Bereits ihre Ururgroßmutter sei zudem als „Kräuterfrau“ bekannt gewesen. „Das Kartenlesen ist meine eigentliche Gabe. Die meisten Kunden kommen dafür zu mir.“ Die Karten sprächen förmlich zu Aurich. „Ihre Bilder und Anordnung lassen direkte Rückschlüsse auf den Charakter, Vergangenheit und Zukunft meiner Schützlinge zu“ – allerdings nur, wenn die ihr gegenüber offen seien.

„Das Lesen ist ein Geben und Nehmen. Der Gesprächspartner muss offen sein“, sagt auch Sabuha Salaam. Im Kreuzberger Café „Südblock“ liest Salaam im Kaffeesatz. Anders als Aurich bezeichnet er sich nicht als Hellseher, obschon er spirituell und tief religiös sei. Gleichwohl glaubt auch Salaam, eine Gabe zu besitzen. Im Bodensatz einer Tasse türkischen Kaffees offenbart sich Salaam die Zukunft seines Gegenübers. Wie im Falle des Glaskugellesens, ruft der konzentrierte Blick in die geleerte Tasse Bilder vor Salaams Augen hervor. Manchmal erkennt Salaam im Kaffeesatz jedoch auch eindeutige Formen.

Anders als Aurich ist Salaam überzeugt, dass jeder im Kaffeesatz lesen kann. Seinen Kunden rät er, sich an ein türkisches Sprichwort zu halten: „Falla inanma ama fallsiz da kalma.“ – „Glaube nicht ans Kaffeesatzlesen, aber lebe auch nicht ohne.“ Helen Müller und Stefan Steins

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