Berliner Szenen: Zocken im Hort
Ich will Autist werden
Ich hole Fup vom Hort ab, aber er will nicht mitkommen, weil er noch „zocken“ muss. Zocken? Er erklärt es mir. Jeder nimmt eine Karte in die Hand und zwar „offen“ oder „verdeckt“, das heißt mit der Vorder- oder eben mit der Rückseite. Dann klatscht man die Hände im Stile von High Five gegeneinander und lässt die Karten zu Boden flattern. Liegen beide Karten offen, also mit der Rückseite auf dem Boden, hat derjenige gewonnen, der die Karte offen gehalten hat. Oder eben umgekehrt. Die Karte des anderen geht dann in den eigenen Besitz über.
Dieses Spiel spielen die Jungs sogar, wenn sie nebeneinanderher laufen. Ich sage ihm, wir müssten jetzt endlich los. Auf dem Weg nach Hause beschwert sich Fup darüber, dass ich ihn unterbrochen habe, denn er wollte unbedingt noch schnell den einen Jungen „abzocken“, er hätte auf jeden Fall gewonnen. „Oder verloren“, sage ich. „Nein, gegen den gewinne ich immer“, sagt Fup. „Wieso?“, frage ich. Er zeigt mir eine Karte und dreht sie dann um. Da ist die gleiche Karte noch mal, denn die Karten sind mit der Rückseite zusammengeklebt, sodass sie immer „offen“ auf den Boden fällt. Ich sage, dass das Betrug sei. Fup sagt: „Wieso? Das macht doch jeder.“ Aha, denke ich. Eine raffinierte List, um nie zu verlieren, aber auch nie zu gewinnen.
Zu Hause erzähle ich Nadja von der neuen Karriere Fups und frage ihn: „Was willst du eigentlich mal werden? Trickser?“ Fup sagt: „Ich will Autist werden.“ – „Autist?“ – „Na das, was du machst“, sagt Fup. „Ach, du meinst Autor“, sage ich erleichtert. „Ist ja auch ungefähr dasselbe“, sagt Nadja.
„Kannst du jetzt mit mir zocken?“, fragt Fup. Früher konnte ich sagen, „weiß nicht, was das sein soll“, aber jetzt nicht mehr. Schlaff halte ich ihm meine Hand mit einer Karte zum Abklatschen hin. Irgendwie wundert es mich nicht, dass ich immer verliere. Klaus Bittermann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen