MANCHMAL STIMMEN DIE SCHAUERMÄRCHEN UND PRENZLAUER BERG IST SO STILL BESINNLICH WIE SINDELFINGEN. ZU SILVESTER GILT DAS ALLERDINGS EHER NICHT
: Dieses Schlachtfeld

VON JURI STERNBURG

Meine klischeebeladenen Vorstellungen einer Silvestersause in Prenzlauer Berg wurden bitter enttäuscht, dabei hätte ich es durchaus besser wissen können. Schließlich habe ich hier elf Jahre gelebt. Da kann man mal sehen, was einige Monate Abwesenheit und die gängige Propaganda so alles anrichten können. Plötzlich glaubt man wider besseres Wissen die Schauermärchen von der Deckungsgleichheit des ehemaligen Trendbezirks und einem angeblich existierenden Dorf namens Sindelfingen.

Ich dachte tatsächlich, man könnte um null Uhr relativ ungestört auf dem Wasserturm stehen. Weil die meisten Anwohner hier ja kleine Kinder haben und ihre Raketen deswegen bereits um 19 Uhr gezündet hätten. Wenn sie nicht sowieso beim Mitternachtsyoga sind oder dafür sorgen, dass Wolfgang Thierse nur noch „Pflaumendatschi“ in den lokalen Bäckereien bekommt. Pustekuchen. Die nicht mal als Hügel durchgehende Anhöhe ist dermaßen überfüllt mit wild feiernden Zündlern, dass man sich ernsthaft fragen musste, wie so etwas möglich ist. Schließlich war es nur wenige Tage vorher noch so wunderschön leer und ruhig.

Der aufgestaute Hass

Weihnachten nämlich sind die meisten Anwohner zu Hause und das ist irgendwo anders. In diesem Fall trifft das Klischee tatsächlich zu. Pünktlich zu Silvester scheint man allerdings zurückzukehren, und dann muss der gesamte über die Feiertage bei der Familie aufgestaute Hass irgendwie entladen werden. Und so etwas kann der durchschnittliche Deutsche am besten bei Massenveranstaltungen.

Allerdings muss man zugeben, dass auch die Berliner Polizei mal wieder alles getan hat, um klar zu machen, dass wir uns definitiv nicht in Sindelfingen befinden. Zu Hunderten haben sie sich ohne erkennbaren Grund an den Straßenecken postiert und gucken grimmig in die Gegend. Während der durchschnittliche Tourist eher verstört auf die massive Anwesenheit der Herren in Grün reagiert und nicht versteht, warum die Beamten nicht mal mit der Wimper zucken, wenn man sie in einem Spanisch-Englisch-Mix nach dem Weg in den Mauerpark fragt, tun Berliner eben, was man so tut, wenn sich solche Möglichkeiten ergeben, und decken die Beamten massiv mit Feuerwerk ein. Ist natürlich keine große Überraschung. Das hätte man sich auch vorher denken können – man stellt sich ja auch nicht mit einem All-Cops-Are-Bastards-T-Shirt vor den Polizeikongress.

In Kreuzberg, wo ich ursprünglich den Abend verbringen wollte, muss man die Polizei an diesem Abend erst durch Barrikadenbau anlocken, um sie dann angreifen zu können. Und in Prenzlauer Berg prügeln sie auf alles ein, was auch nur einen Knallfrosch in die Nähe einer Wanne wirft. Irgendetwas stimmt hier nicht. Sollte das Ende des Mayakalenders wirklich die Chakren der Welt durcheinandergebracht haben, so wie es die Esoteriktempel der Welt prophezeit haben?

Ein kurzer Praxistest bestätigt den Verdacht nicht wirklich: die Gruppe Behelmter reagiert abweisend wie eh und je, als ich ihnen ein Frohes Neues wünsche und die Sektflasche herumreichen möchte.

Auf dem Wasserturm ist mittlerweile das Chaos ausgebrochen, und als die ersten Raketen vor unseren Füßen einschlagen, entscheiden wir uns, dieses Schlachtfeld zu verlassen. Dass man sich aber auch nie auf diese Zugezogenen verlassen kann.