: Ein Zeichen für alle Ängste und Mythen
MINARETTVERBOT Hinter dem Schweizer Volksentscheid steht eine tiefe Irrationalität. Dagegen die Irrationalität der Religion zu verteidigen, ist kein Ausweg. Nur: Wer oder was ist die Instanz der Vernunft?
Zuerst die Niederlande, nun die Schweiz – all die exemplarischen Horte von Demokratie und von Toleranz entzaubern sich nacheinander. Europäische Traditionen verwandeln sich in bröckelnde Fassaden, und was dahinter zum Vorschein kommt, mag wohlwollend als Angst vor einer völligen Veränderung der Gesellschaft bezeichnet werden, weniger wohlwollend als Hass auf alles Fremde. In jedem Fall – ob verständliches Unbehagen oder unverständliches Ressentiment –, was an die Oberfläche kommt, ist eine tiefe Irrationalität. Etwas, was unseren demokratischen Ordnungen scheinbar grundlegend zuwiderläuft. Im Fall der Schweiz noch verstärkt durch den Umstand, dass solch eine undemokratische Tendenz durch einen urdemokratischen Vorgang zutage trat.
Man muss zugeben, dass die Betreiber der Schweizer Volksbefragung äußerst geschickt waren. Denn sie haben diese zu einer Abstimmung über ein Symbol gemacht. Als solches ist das Minarett ein Zeichen, in dem sich ganz viel bündeln, ganz viel verdichten lässt. Indem man ein aufgeladenes Zeichen ins Zentrum gerückt hat, ist es gelungen alle Ängste, Mythen, Ressentiments, das ganze Repertoire an Irrationalität zu mobilisieren. Das konnte man nur mit einem Symbol erreichen. Denn nur ein Symbol konnte an der „Hysterisierung der Zeichen“ (Étienne Balibar) teilhaben. Eine solche entsteht dort, wo es um eine Hierarchie der religiösen Zeichen und damit um deren Sichtbarkeit geht. Die Ablehnung der Minarette bedeutet die Ablehnung eines bedeutungsvollen, sichtbaren Zeichens der Präsenz des Islam. Wenn nun gesagt wird, es braucht keine Minarette zur Ausübung der Religion, dann folgt das dem Modell des Josefinismus, des aufgeklärten Absolutismus. Josef II. hatte eine andere Religionsausübung als die katholische nur in Bethäusern „ohne Turm und zur Straße führenden Eingang“ toleriert. Dieses Unsichtbarmachen entspricht der Hinnahme einer anderen Religion und vermeidet gleichzeitig deren Anerkennung. Man könnte auch sagen, das Verbot einer sichtbaren Religionszugehörigkeit sei die Umkehr jener Praktiken, die religiösen Gruppen Erkennungszeichen aufgezwungen haben (Bruno Latour).
Als aufgeklärter Demokrat sitzt man wieder einmal zwischen den Stühlen: Angesichts der Irrationalität des Fremdenhasses muss man die Religion, deren Irrationalität man früher bekämpft hatte, nunmehr verteidigen. Wo ist da noch eine durchsetzungsfähige Instanz der Vernunft? Die Politik wäre ein Anwärter. Aber wir wissen längst, dass sie weder Antworten auf die Ressentiments noch auf die Ängste hat. Aber war nicht die EU als Antwort auf solche Probleme gedacht? Tatsächlich hat diese Antwort schon bei Mitgliedsstaaten nicht funktioniert – man denke nur an die EU-Sanktionen gegen die Haider-Koalition in Österreich im Jahr 2000. Sie waren ein Schuss, der nach hinten losging, denn sie haben nur den Nationalisten aller Couleur massiven Aufwind verschafft.
Aber dennoch – die intensiven Reaktionen zeigen sehr deutlich: Wenn sich die Schweizer zu 57,5 Prozent für ein Verbot von Minaretten aussprechen, so ist das nicht nur ein massives Votum (das weit über die Sympathisantenkreise rechtspopulistischer Parteien hinausgeht), es ist nicht nur ein schwerwiegendes, symbolträchtiges Votum, es ist auch ein exemplarisches Votum für viele europäischen Ländern und geht damit uns alle etwas an. Die Büchse der Pandora wurde geöffnet, und weit und breit ist keiner da, der sie wieder zu schließen vermag. ISOLDE CHARIM