: „Die Alternative wäre, unter der Erde zu sein“
LEBENSSPANNE Unter Helmut Kohl war Ursula Lehr Ministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Als Wissenschaftlerin beschäftigte sie sich mit dem Alter. Ein Gespräch über Einschränkungen, Chancen und Freiheiten jenseits des 80. Lebensjahrs
■ Leben: Jahrgang 1930. Gilt als die große alte Dame der Altersforschung in Deutschland. Verheiratet, zwei Söhne.
■ Akademisches: Studierte Psychologie, Philosophie, Kunstgeschichte und Germanistik in Bonn und Frankfurt am Main. 1972 erhielt sie ihre erste Professur an der Uni Köln. 1986 ging sie an die Uni Heidelberg und gründete dort das Institut für Gerontologie.
■ Politik: 1988 machte Helmut Kohl sie zur Ministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Dass sie sich vor allem auf die Seniorenarbeit konzentrierte, trug ihr Kritik ein, ebenso der Vorstoß, Krabbelgruppen bereits für Zweijährige einzurichten und die Rentenaltersgrenze anzuheben.
■ Engagement: 1995 wurde sie Gründungsdirektorin des Deutschen Zentrums für Altersforschung in Heidelberg, seit 2009 ist sie Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen.
GESPRÄCH FRIEDERIKE GRÄFF
sonntaz: Frau Lehr, gibt es etwas am eigenen Alt-Sein, das Sie als Altersforscherin überrascht?
Ursula Lehr: Eigentlich nicht. Na ja, ich habe nicht erwartet – obwohl ich es von der Literatur her weiß –, dass eine neue Hüfte notwendig werden würde. Aber im Großen und Ganzen sind es Einschränkungen, mit denen man zurechtkommen kann. Trotzdem würde ich jetzt keine Drei-Stunden-Wanderung machen wollen, da muss ich schon auf meine Kräfte achten.
Ist Ihnen der Körper zum Ärgernis geworden?
Das würde ich nicht sagen. Natürlich war es früher anders, ich hatte zum Beispiel keine Probleme mit den Haaren – aber man sollte dieser Zeit nicht nachtrauern. Man nimmt diese kleinen Einschränkungen in Kauf. Die Alternative wäre schließlich, unter der Erde zu sein.
Und wie kamen Sie als junge Wissenschaftlerin auf die Idee, sich ausgerechnet für Altersforschung zu begeistern?
Mein Schwerpunkt war die Entwicklungspsychologie, mich hat ganz allgemein die Entwicklung des Menschen interessiert. Angefangen habe ich, auch weil ich selbst ein Baby hatte, mit der Entwicklung des Kleinkindes.
Wie kamen Sie dann von den Kleinkindern zu den Alten?
Es gab damals, Mitte der 50er Jahre, bereits Interesse an der Leistungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer. Wir haben nach einem möglichen Leistungsknick bei älteren Arbeitnehmern gesucht – diesen aber nicht gefunden.
Haben Sie damals eine Forschungslücke entdeckt?
Altersfragen waren in den 60er Jahren kaum erforscht. Und wenn, dann nur seitens der Medizin. Und die hatte nur kranke Alte im Blick, Vorsorge war damals noch nicht üblich. So verbreitete sich das negative Altersbild: „Alte Menschen sind kranke Menschen.“ Altern war damals noch ein bisschen was anderes. Es begann mit 60, 65 Jahren, 100. Geburtstage gab es kaum. Das hat sich radikal geändert.
Ein demografischer Wandel.
Wir haben ihn ziemlich früh vorausgesagt. Bei mir sind 50 Doktorarbeiten über den Tisch gegangen – aber keine Plagiate, weil es immer eigene empirische Forschungen waren. Davon ging eine über das Fertilitätsverhalten, mit dem Titel „Lebenssituation und Kinderwunsch: Motivationen und Hindernisse bei der Familiengründung“.
Die Problematik scheint die Öffentlichkeit damals nicht erreicht zu haben – genauso wenig wie der positive Blick aufs Alter.
Bei den „kompetenten“ Alten gibt es ja keinen politischen Handlungsbedarf. Bei den pflegebedürftigen Alten aber schon – und darüber schreiben die Zeitungen zu Recht. Entweder wird über jemanden berichtet, dem es ganz schlecht geht, oder über einen 70-Jährigen, der auf die Fidschi-Inseln reist und dort so sexuell aktiv ist, dass manch 25-Jähriger sich dahinter verstecken kann. Die breite Mehrzahl älterer Menschen, die weder pflegebedürftig noch hyperaktiv sind, interessieren die Medien nun einmal nicht.
Hat man es selbst in der Hand, ob man zu den aktiven Alten gehört?
Zum Teil. Eigentlich fängt die Prävention schon in der Kindheit an. Wie es Ihnen als 70-, 80-Jähriger geht, ist von Ihrer ganzen Lebensgeschichte beeinflusst. Schon die Bonner Längsschnittstudie hat gezeigt, dass diejenigen Frauen, die berufstätig waren – was bei den von uns erfassten Jahrgängen 1890–1910 relativ selten war –, viel selbständiger gealtert sind als die „Vollhausfrauen“. Die Vollhausfrauen, auch die mit Abitur, waren „die Frauen an der Seite ihres Mannes“; sie waren vielleicht kulturell interessiert, aber nicht fähig, den Alltag zu meistern. Sie wussten nicht, wie man eine Überweisung bei der Bank macht. Wenn ihr Mann starb, waren sie oft völlig hilflos. Das hat man damals allerdings eher ungern gehört.
Wie haben Sie damals Ihr Leben als Wissenschaftlerin mit zwei kleinen Söhnen organisiert?
Ich hatte einen Mann, der sehr partnerschaftlich orientiert war, eine Seltenheit in den 50ern.
Hatten Sie ein Kindermädchen?
Nein. Wir hatten von 250 Mark Gehalt zu leben; damals konnte man damit mehr kaufen als heute, wir mussten sehr rechnen. Aber wir hatten in der Nachbarschaft eine 16-Jährige, die gern mal für eine Stunde vorbeikam und auf unseren kleinen Sohn aufpasste.
Wann haben Sie dann gearbeitet?
Nachts. Bis drei. Ich kann Gott sei Dank bis heute mit wenig Schlaf auskommen. Nur, dass es sich verschoben hat: Meine Dissertation, später meine Habilitationsschrift verfasste ich in den frühen Nachtstunden; heute bin ich am produktivsten in den frühen Morgenstunden, ab fünf Uhr.
In Ihrer Zeit als Familienministerin unter Helmut Kohl haben Sie das Modell der berufstätigen Mutter vertreten – und dafür Prügel bezogen.
Genau das. Und ich hatte, da ich Seiteneinsteigerin war, kein Netzwerk. Die Frauen in der CDU waren mit Recht sauer, weil sie gedacht hatten, dass jetzt eine von ihnen zum Zug kommen würde. Und dann hat Kohl ihnen jemand von außen vor die Nase gesetzt. Insofern hatte ich es am Anfang ein bisschen schwer. Als ich dann gefordert habe, die Kindergärten schon für Zweijährige zu öffnen – nicht als Muss, sondern als Möglichkeit –, ging ein Aufschrei durch die Bevölkerung und ich bekam Tausende von Briefen. Es wäre interessant, die jetzt noch einmal zu lesen.
Hat sich seitdem viel getan?
Wenn man es damit vergleicht, ja. Wenn man damals als Schwangere studierte, wurde man schon komisch angeguckt – heute wäre das doch wunderbar. Wenn mein Mann damals den Kinderwagen schob, war das ein Ding der Unmöglichkeit. Als meine beiden Söhne Väter wurden, war das schon selbstverständlich – und das ist auch schon wieder 20 Jahre her.
Als Familienministerin haben Sie sich sehr auf die Alten-Thematik konzentriert – und damit manche Frauen enttäuscht, die sich mehr frauenpolitisches Engagement erhofft hatten.
Bundeskanzler Kohl hat mich als Altersforscherin berufen, er hatte damals schon diesen Weitblick. Er sagte: „Für alle tun wir etwas, nur für die Alten nicht.“ Als ich mich im Kabinett dafür einsetzte, den ersten Altenbericht in Auftrag zu geben, da sagten einige meiner Kabinettskollegen laut und deutlich: Was brauchen wir einen Altenbericht? Da habe ich nur geantwortet: Wir haben bereits acht Jugendberichte, vier Familienberichte, warum nicht einen Altenbericht?
Sie betonen immer wieder, dass geistige Interessen, zum Beispiel Bücher lesen, Musizieren, zu einer solchen Vorsorge gehören. Altert also die Mittelschicht, bei der Klavierunterricht von früh an dazugehört, besser?
Bildung ist ein ganz wesentlicher Faktor für ein kompetentes Älterwerden. Deswegen müssen wir Bildung von klein an bis auch noch nach dem Berufsende fördern. Es hat sich sogar gezeigt, dass diejenigen, die geistige Funktionen trainieren, die Symptome der Alzheimer-Krankheit herausschieben können.
Ist Alter ein Schichtenphänomen?
Ja – wobei, was bedeutet hier soziale Schicht? Es ist nicht nur vom Finanziellen abhängig. Auch wenn man arm ist, kann man eine halbe Stunde pro Tag, so schnell es geht, spazieren gehen. Frühgymnastik ist nicht teuer, der Arzt sagt einem, was für Übungen man machen soll –da muss man sich vor allem selbst an die Kandare nehmen.
Gelingt Ihnen das?
Ich mache jeden Morgen meine Gymnastik. Wenn man das nicht macht, wird man immobil, geht nicht mehr zu Veranstaltungen, verreist nicht mehr. Sie können dann zu Hause etwas lesen, aber Sie können es nicht mehr mit anderen diskutieren. Sie würden vielleicht stundenlang am PC sitzen, was auch ganz schön ist, aber das allein ist nicht das Richtige.
Damit wären wir wieder beim Körper. Ihr Kollege, der Altersforscher Paul Baltes, hat gesagt, wenn man das vierte Lebensalter betrachtet …
… in seinem Ausspruch „Trauerflor mit Schleifchen“ …
… genau, dann hinge die Frage, wie gut man lebe, ab etwa 80 Jahren nicht so sehr von Verhaltensstrategien und der Umwelt ab, sondern von der Körperlichkeit – und der Hilfe der Biomedizin. Will man dem nicht ins Auge sehen?
Nicht jeder braucht eine künstliche Hüfte. Teilweise ist es Schicksal. Außerdem gibt es nicht das eine Alter, es gibt verschiedene Formen des Alterns. Fachlich gesprochen sind das die interindividuellen Unterschiede der intraindividuellen Entwicklung. Paul Baltes hat das einfacher formuliert; er sagte: Wenn sich 70-Jährige zum 50-jährigen Abitur treffen, dann meint man, manche hätten ihre Mütter und manche ihre Töchter mitgebracht. Aber ich wende mich gegen die Bezeichnung „drittes“ und „viertes“ Alter; die Übergänge sind fließend. So gesehen stirbt mancher mit 100 im dritten Alter.
Und wir alle hoffen, Leid bei uns und unseren Angehörigen ausklammern zu können.
Ich bin nicht so streng katholisch wie mein Elternhaus, aber ich bin durchaus gläubig und gehe jeden Sonntag in die Kirche. Und ich denke, das müssen wir Gott überlassen. Einschränkungen wird es immer geben, sei es durch – in Anführungszeichen – eigene Schuld, sei es durch genetische Anlagen.
Wenn Sie so stark die Eigenverantwortung für die Qualität des Alters betonen – zieht sich die Gesellschaft dann nicht aus ihrer Mitverantwortung?
Ich verstehe Eigenverantwortung darin, dass man das, was man alleine noch kann, auch alleine tut. Eigenverantwortung bedeutet auch, in dem mir möglichen Maße vorzusorgen, zum Beispiel nicht zu rauchen, nicht zu viel Alkohol zu trinken, mich gesund zu ernähren. Ich würde sogar so weit gehen, auch das aus dem Fernsehprogramm herauszusuchen, was mich informiert und vielleicht auch ein bisschen weiterbildet.
Dazu muss man sagen, dass Sie als Familienministerin die Verantwortlichen der „Schwarzwaldklinik“ wegen ihres Mutterbildes kritisiert haben.
Das war ja nicht gerade ein Informations- und Bildungsprogramm – dennoch eine Erfolgsserie, die ich mir auch gerne angeschaut habe, wenn ich Zeit hatte. Doch da hat man alle Schwierigkeiten des Kindes auf die Berufstätigkeit der Mutter geschoben. Dabei hilft eine ganztags anwesende Mutter, die das Kind unbeachtet so nebenbei spielen lässt, ihm weniger, als diejenige, die sich eine Stunde pro Tag intensiv mit ihm befasst.
Bereuen Sie im Rückblick Ihren Ausflug in die Politik?
Das war zweifelsohne eine Horizonterweiterung und ich habe ja auch einiges bewirken können. Und ich habe Helmut Kohl von Anfang an gesagt: Ich übernehme das Amt für diese Legislaturperiode, ich mache es so lange, bis ich eine Seniorenpolitik etabliert habe, dann gehe ich zurück in die Wissenschaft. Ich hatte in meiner Amtszeit allerdings keineswegs nur Erfolgserlebnisse.
Sondern viel Gegenwind sowohl von Opposition als auch von Parteikollegen.
Die Erfolgserlebnisse kommen jetzt hinterher. Die ganze Kindergarten-Geschichte war erst einmal ein großer Misserfolg. In der Altenpflege habe ich mich für eine qualitative Ausbildung eingesetzt und dann einmal frei von der Leber gesprochen, bei einer Altenpflegetagung, und da hieß es in der Presse: „Lehr sagt: ‚Wenn wir mehr Altenpfleger haben, sitzen die doch nur zusammen und trinken Kaffee.‘“ Tatsächlich hatte ich gesagt, dass es alleine mit mehr Altenpflegern nicht getan sei, wir bräuchten auch eine bessere Ausbildung. Ich erwähnte auch eine Studie aus München, die damals gerade ergeben hatte, dass in Zeiten, in denen mehr Pfleger da seien, die zusammengesessen und Kaffee getrunken haben und sich weniger den Patienten zuwandten. Mein ganzer spontaner Vortrag war ein Plädoyer für die Würdigung des Altenpflegeberufs. In der Presse wurde das Gegenteil daraus.
Gibt es eigentlich Entwicklungen in Ihrem eigenen Alter, die Sie fürchten?
Fürchten nicht, ich bin eher neugierig. Ich würde gern die weitere Entwicklung meiner Enkel mit beobachten. Der eine wohnt bei mir. Er ist 18 und macht gerade Abitur.
Also genau das, was Sie fordern: den Austausch zwischen den Generationen. Haben Sie ihn angeworben?
Einer meiner Söhne ist in Mexiko verheiratet, die Familie lebte in Mexiko-City. Vor drei Jahren kam eine Kidnapping-Drohung, so dass die Familie wegzog in eine kleinere Stadt. Für meinen Enkel gab es da keine passende Schule. Ich war verwitwet, lebte allein und die Eltern fragten mich, ob er zu mir kommen könne. Ich habe Ja gesagt und gleichzeitig gedacht: 15 Jahre, in der Pubertät, spanischsprachig, mäßiges Deutsch – was wird das? Dann ging es ganz prima. Am Anfang habe ich viel Zeit für Nachhilfe verwendet, sie nahmen da gerade die Punischen Kriege durch und das ist für jemanden aus Südamerika ziemlich fremd. Aber er hatte sich sehr schnell eingewöhnt, ist jetzt auch sprachlich perfekt. Und wenn ich am PC Probleme habe, hat er die Lösung. Ich habe seine Freunde kennen gelernt, manchmal essen wir zusammen, da hört man die Gedankenwelt der jungen Leute. Und die bekommen auch ein ganz anderes Altersbild mit.
Gibt es auch Reibungspunkte?
Gar nicht. Da wundere ich mich selbst. Nun ist unsere informationstechnische Entwicklung ein großer Vorteil: Mindestens zweimal pro Woche wird mit Vater und Mutter geskypt. Und wenn er mich früher gefragt hat, ob er abends in die Disco durfte, habe ich gesagt: Frag deinen Vater. Da ist die moderne Technik ein Riesengewinn.
Was ist für Sie persönlich das Beste am Alter?
Freier über seine Zeit verfügen zu können.
Die Pressesprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen erzählte, Sie hätten mehr Termine als sie.
Das stimmt. Ich kann nicht Nein sagen, das ist mein persönlicher Fehler. Am Montag in Hamburg, am Mittwoch in München und am Freitag in Berlin – so ähnlich laufen meine Wochen ab. Aber im Grunde bin ich freier. Man kann sich eher ein offenes Wort leisten, man ist nicht mehr abhängig. Es ist völlig einerlei, was die anderen denken. Ich kann, obwohl ich CDU-bekennend bin, sagen: Vom Betreuungsgeld halte ich nichts; es hält die Kinder, die eine frühkindliche Bildung am nötigsten haben, von der Kita fern; so gesehen ist ein Betreuungsgeld Unfug. Ich setze mich immer noch gerne ein – aber ich brauche keine Posten mehr, ich habe sowieso zu viele.
■ Friederike Gräff, 40, ist Redakteurin der taz.nord in Hamburg