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Archiv-Artikel

Konzeptionelle Ödnis

DAS SCHLAGLOCH von KLAUS KREIMEIER

Seit 1789 artikulierte Politik den Anspruch, gegen Sachzwänge das Wohl des Gemeinwesens zu verfechten

Kein Mensch spricht mehr vom 22. Mai. Das ist verständlich, denn alles, was danach in diesem Land geschah, hat die Aufmerksamkeit von jenem Abend abgezogen, der vermutlich, wenn einmal die Geschichte vom Niedergang der Sozialdemokratie geschrieben werden wird, einen prominenten Platz einnehmen dürfte.

Fast ohne Murren ließen sich Parteien, Wähler und Medien Ende Mai auf eine neue Umlaufbahn katapultieren. Mit viel Radau marschierten wir alle in den Wahlkampf, dann in die Wahlen selbst und schließlich in den Deutungskampf um ein kompliziertes Wahlergebnis. Die Selbstverständlichkeit, mit der das alles geschah, offenbarte neben demokratischer Routine auch Betriebsblindheit. Diese Verschiebung in der Aufmerksamkeit von der Ursache zur Wirkung war den Aufregungen des Parteienstreits mit seinem unvermeidlichen Schlachtenlärm geschuldet. Bald wird sich der Pulverdampf legen, das Geschrei verebben, und auch das mediokre Gezerre um Personen und Kompetenzen, das zurzeit noch die Koalitionsverhandlungen belebt, wird vergessen sein.

Es wird wieder der graue Alltag der sozial- und finanztechnokratischen Klempnerei beginnen. Haushaltssanierung: aber wie? Sparen: auf Deubel komm raus. Weitere Einschnitte ins Sozialnetz: unumgänglich. Erhöhung der Mehrwertsteuer: jein. Der graue Alltag wird sich in ein graues Land schleppen, das inzwischen gelernt hat, die notorische Ideenarmut in seinem politischen Kuppelbau mit Gleichmut zu ertragen.

Der Blick wird wieder frei werden: für die konzeptionelle Ödnis, die nun mit den Weihen einer großen Koalition ihre Fortsetzung erfährt. Für die Frage, wie eigentlich das laute, aber nur mäßig unterhaltsame Intermezzo der vergangenen fünf Monate seinen Anfang nahm. Nicht nur der sozialdemokratische Kanalarbeiter, der stets treu seine Transparente hoch- und seine Flugblätter tapfer hingehalten hat, wird grübeln: Was ist an diesem seltsamen Sonntag nach der verlorenen Wahl in Nordrhein-Westfalen eigentlich passiert – und warum ist es passiert? Tatsächlich ist dieser schon halb vergessene 22. Mai die politische Chiffre des Jahres, hinter der sich mehr verbirgt als eine vergeigte Landtagswahl, der Beginn eines langen Abschieds von der Macht oder das Ende von Rot-Grün. Der Bundeskanzler, an dieser Erkenntnis führt nichts mehr vorbei, erklärte an diesem Tage de facto seinen Rücktritt. In den darauf folgenden Wochen hat er es verstanden, als Kampfmaschine und nimmermüder Stimmenfänger aus seinem Abgang eine heftige Show zu machen, die jetzt in den Koalitionsverhandlungen noch eine staatsmännische Läuterung erfährt. Dennoch bleibt das Fazit, dass Schröder den Krempel hingeschmissen hat.

Das aufwändige Beiprogramm bis zur Regierungsbildung wird uns am Ende wohl mehr als ein halbes Jahr gekostet haben. Das ist kein nationales Unglück, so etwas kommt in den besten Demokratien vor. Beunruhigend ist bei diesem Rücktritt nur die alte Kinderfrage: Warum, wozu und mit welchem Ziel? Zur Rede stehen hier nicht die psychologischen Motive des Kanzlers, auch nicht das taktische Kalkül, das ihn bewogen haben mag (und das, betrachtet man die aktuelle parteipolitische Konstellation, teilweise sogar aufgegangen ist). Es geht um etwas anderes: um etwas, das über die Person hinaus auf den Rollentypus eines neuen politischen Akteurs verweist. Dieser Typus agiert ohne tragende politische Ideen und inhaltliche Zielsetzungen und beschneidet das ihm verliehene Reservoir an Macht um die Gestaltungsmöglichkeiten, die sich traditionell mit dem Anspruch politischen Handelns verbinden. Von einem Phänotyp unserer Epoche ist die Rede: vom Erscheinungsbild eines Verantwortungsträgers, der – vorgeblich unter dem Zwang unausweichlicher, global wirksamer Gesetze – sich mit der Verwaltung zunehmend verengter Spielräume begnügt.

Zweifellos wird dieser Politikertypus heute gebraucht. Wer weltweit eine radikale Laisser-faire-Politik durchsetzen will, ist dringend auf ihn angewiesen. Gleichzeitig wird im politischen Sprachgebrauch bis zum totalen Sinnverschleiß die „Vision“ semantisch aufgewertet, wobei als „Visionär“ schon Karriere machen kann, wer Subventionsstreichungen, Nullrunden für Rentner oder einen gleichen Steuersatz für alle propagiert. Die Auszehrung des Politischen und die Nobilitierung sozialtechnischer Bastelarbeit zu visionärer Programmatik – „Agenda 2010“ – sind zwei Seiten derselben traurigen Medaille.

Politik ohne konzeptionelle Inhalte erschöpft jedoch: sich selbst und erst recht ihre Akteure. Sie laugt aus, frisst Energien, lässt den Mann oder die Frau schneller altern als eine Politik, die sich nicht nur mit ökonomischen Stellschrauben beschäftigt, sondern auf Ethik fundiert ist und über ein komplexes Bild vom Menschen und seiner Würde verfügt. Sie erschöpft auch schneller das Potenzial an legitimer Machtgier und nicht minder legitimer Lust, möglichst lange an der Macht zu bleiben.

Gerade der „Spaßpolitiker“ Gerhard Schröder hatte sich ja schon früh verbraucht. Und am 22. Mai zeigte sich, dass auch der innere Motor, der ihn antrieb, die Macht um ihrer selbst willen zu verwalten, zu diesem Zeitpunkt definitiv im Eimer war. Der Rest: ein bisschen Tamtam für die Geschichtsbücher.

Der Typus des politischen Akteurs unserer Epoche agiert ohne politische Ideen und inhaltliche Ziele

Der Blick ins Leere, drumherum die Furien des globalisierten Kapitals: Das ist die Situation des politischen Prototyps der Gegenwart. Der Sachwalter der Sachzwänge als Opfer des Burn-out-Syndroms. Ähnlich blickte so mancher Potentat des ausgehenden Feudalzeitalters der Vergeblichkeit ins Antlitz, wenn er sich nach dem Sinn seines Regimes fragte.

Mit den europäischen Revolutionen seit 1789 artikulierte sich Politik im modernen Verständnis: als Anspruch des souveränen Subjekts, gegen den Selbstlauf der „Sachzwänge“ das Wohl des Gemeinwesens zu verfechten. Ordnungen, Regelwerke zu etablieren, die das Elend in der Welt mindern und den Menschenrechten freie Bahn verschaffen – dieses Politikverständnis wird zunehmend an den Rand gedrängt von einer Technokratie, die den Marktkräften ihren ungehemmten Lauf lässt und deren Logik zum Naturgesetz verklärt. Das Wahlergebnis vom September enthielt, neben anderen Botschaften, auch eine Aussage über die Dürftigkeit dieses Zerrbilds von Politik.

Nur vordergründig ist der Erfolg der Linkspartei ein Reflex auf die Lage nach dem 22. Mai und das Siechtum der Sozialdemokratie. In der Substanz ist er weitaus mehr: eine Antwort der Wähler darauf, dass die Entscheidungsträger zunehmend das Gesetz des Handelns verloren oder gar freiwillig aus der Hand gegeben haben. Der Traditionalismus der (derzeitigen) linken Parteispitze und der Ökonomismus ihrer sozialpolitischen Vorschläge täuschen darüber hinweg. Noch wird die Linke der Tatsache nicht gerecht, dass sich in der Breite der Gesellschaft neben der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit etwas Weiteres Gehör verschaffen will: der Ruf nach Rückkehr zur Politik.