Neun nackte Bilder

Ausstellung Kunst, die aus dem Rahmen fällt, obwohl sie längst kanonisch ist. Ein gelungenes Experiment in Kopenhagen

Ansicht der Ausstellung mit van Gogh links vorne und Cézanne im hinteren Raum Foto: Ny Carlsberg Glytotek

von Brigitte Werneburg

Neun nackte Bilder, die eine wunderbare Ausstellung ergeben: Line Clausen Pedersen, der Chefkuratorin der Kopenhagener Ny Carlsberg Glyptotek, ist zu ihrer Idee zu gratulieren, neun Meisterwerke ihres Hauses aus ihren schweren goldenen Rahmen und damit von ihrer musealen Aura zu befreien. Jetzt sieht man sie, wie sie zuletzt die Maler selbst sahen, als sie sie aus der Hand gaben oder sie einfach zur Seite schoben, um die Arbeit später wieder aufzunehmen. Jetzt sieht man die Gemälde, wie sie Museumskustoden sehen oder Restauratoren. Und das ändert die Sichtweise beträchtlich.

Paul Cézannes Bathing Women etwa, die man meint bis zum Überdruss zu kennen: Jetzt sieht man sie gar nicht mehr, dafür aber die charakteristische rhythmische Pinselführung, die der Maler so kontrolliert und lässig gleichermaßen ansetzt, dass die rohe Leinwand erkennbar Bestandteil der Bildkomposition ist. Die nackte Haut der Frauen und das Grün der umgebenden Vegetation ist ein Farbspiel auf der Leinwand, eine anregende malerische Kons­truktion, die die Möglichkeit des Gemäldes, Realität zu evozieren und doch deutlich Bild zu sein, virtuos ausreizt.

Nur eine rund 5 Zentimeter vor das Kunstwerk vorgeblendete Glasscheibe schützt Cézannes „Die Badenden“, die nicht nur die Wand, sondern den Raum für sich haben. Die freien Wänden schmücken Zitate des Malers. Eine Plexiglasbox hält nähere Informationen zum Kunstwerk bereit. Vincent van Goghs „Landscape from Saint-Rémy“ (1889), Edgar Degas’ „Dancers Practising in the Foyer“ (1880er Jahre), Edouard Manets „Absinth Drinker“ (1859), Theodore Rous­seaus „Thunderstrom over Mont Blanc“ (1834/67) und ein Stillleben, das Gustave Courbet 1870 während seines Gefängnisaufenthalts malte, werden in analoger Weise präsentiert. Nur Claude Monets zwei Gemälde „Windmill and Boats near Zaandam“ (1872) und „The Flood at Giverny“ (1896) werden mit Alfred Sisleys „The Flood“ (1872) in einem Raum gezeigt.

Ganz ohne Inszenierung freilich kommt auch die „Paint“-Ausstellung nicht aus. Der Rahmen gibt den Bildern nun die Farbe des Raums, die immer anders und auf den Farbton des Gemäldes abgestimmt gewählt wurde. Der Cézanne-Raum etwa ist tiefblau und senfbraun gehalten, während eine tomatenrote Wand van Goghs dramatische weiße Wolke trägt, die sich über die Berge um Saint-Rémy schiebt. Degas’ Balletttänzerinnen wiederum sind eingebettet in moosiges Grün. Genauso wie der an derselben Wand hängende leere Rahmen des Bildes, an dem der Maler wohl dreißig Jahre lang gearbeitet hat.

Tiefe des Bildraums

Der Rahmen fungiert wie ein Ausrufezeichen, das auf seine problematische, dekorative Funktion hinweist, das Bild für den Kunstmarkt herzurichten. Als in diesem Fall der Rahmen entfernt wurde, stellte sich her­aus, dass er vom linken Bildrand etwa 6 Zentimeter wegmogelte. Damit schmälerte er die monochrom unbewegte Breite einer Wand, die es freilich braucht, um dem Bildraum die notwendige Tiefe zu geben, in der sich die Tänzerinnen bewegen können.

Zwei Röntgen- beziehungsweise Infrarotaufnahmen an den anderen Wänden ermöglichen es den BetrachterInnen, den Arbeitsprozess Degas’ nachzuvollziehen, die Vorzeichnungen zu erkennen oder die Vielzahl der Figuren, die auftauchen und wieder verschwinden, bis am Ende sechs Tänzerinnen bleiben und ein Krug, der an der zweiten von drei Säulen steht. Was immer gleich blieb über die ganzen dreißig Jahre hinweg, war der graue Streifen Wand, dessen auffällige Breite der Rahmen kaschierte.

Mehr als dreißig Jahre arbeitete auch Théodore Rousseau an seinem monumentalen Landschaftsgemälde „Thunderstrom over Mont Blanc“. 1834 hatte er mit seinem Freund und Künstlerkollegen Jules Dupré den französischen Jura besucht. Das raue, in der Ferne vom Alpenpanorama des Mont Blanc gekrönte Mittelgebirge prägte sich ihm unauslöschlich ein. Sein ehrgeiziges Ziel, die komplexe Struktur dieser Landschaft in ihrer geologischen Beschaffenheit, ihrer Fauna und Flora genauso auf die Leinwand zu bannen wie ihrer dramatischen Natur mit einem Gewittersturm adäquaten malerischen Ausdruck zu geben, führte dazu, dass er das Bild 1867, als er 55-jährig starb, noch immer nicht fertig gestellt hatte. Ursprünglich war es größer gewesen, wie die nach hinten umgeschlagene Leinwand zeigt, die bemalt ist. Und die ein Ereignis ist. Eine Landschaft, die den Blick in die Tiefe ihres Bildraums führt und ihn bis in die kleinsten Details zu sehen gibt. Gleichzeitig ist dieser Gewittersturm ein paradox zweidimensionales, undurchdringliches, malerisches Allover.

Es hat also seine schöne Richtigkeit, wenn sich die Besucher und Besucherinnen hier auf eine Lederbank setzen und eine Stoppuhr betätigen können, die ihnen zeigt, wie lange sie vor dem Bild saßen. Wenn sie Lust haben, können sie darüber, welche Gedanken ihnen beim Betrachten des Gemäldes durch den Kopf gingen, auf einer Flipchart Auskunft geben und das Blatt an die Wand pinnen. Eine Besucherin berichtet, ihr sei vorab gesagt worden, Rousseau sei die Betrachtung nicht wert, und wie froh sie darüber sei, das nicht geglaubt zu sein.

Ja, die Präsentation hat das seltene Verdienst, den Betrachtern die Möglichkeit zu geben, Malerei als solche entdecken zu können. Dafür gibt sie ihnen jede denkbare Unterstützung, ganz nebenher. Der Minimalismus der Ausstellung, die Kon­zen­tration auf das Wesentliche, also das Bild, bleibt immer gewahrt. Und gleichzeitig hält die Ausstellung mit ihrem Konzept, Malerei lehrreich zu zeigen, nicht hinterm Berg. Nicht ohne Grund werden die Besucher mit einem Glossar zu den Begriffen entlassen, die es braucht, um sich technisch über Malerei, ihre Methoden und Materialien zu verständigen.

Die Grundlagen der Ausstellung schufen die Sammler Carl und Helge Jacobsen, Eigentümer der Carlsberg Brauerei. Carl Jacobsen, der Vater, brachte antike Skulpturen aus Ägypten, Griechenland und Rom nach Dänemark und begeisterte sich für die Bildhauerei von Auguste Rodin und Edgar Degas. Sein Sohn Helge ergänzte die Sammlung, die 1888 in einem Museumsneubau der Öffentlichkeit übergeben wurde, mit dänischen und französischen Gemälden des 19. und 20. Jahrhunderts. Noch heute finanziert sich das Museum, das mit seinem Palmengarten eine herrliche 19.-Jahrhundert-Atmosphäre besitzt, über einen Obolus, der auf jede Flasche Carlsberg-Bier aufgeschlagen wird.

Bis 3. März, Neue Glyptothek, Kopenhagen