Der Tiger folgt dir wie ein Schatten

Unablässiges Schillern, unablässiges Pulsieren: Dass „Tropical Malady“, der dritte Langfilm des thailändischen Filmemachers und Videokünstlers Apichatpong Weerasethakul, ins Kino kommt, ist ein Glücksfall. Denn selten betört ein Film so wie dieser

Im zweiten Teil mangelt es an Licht, dafür ist die Tonspur umso reicher: Ein Affe redet, Vögel zwitschern, das Laub raschelt

von CRISTINA NORD

Wer ins Kino geht, genießt „die ungefährliche Gefahr“, schrieb Béla Bálazs in seiner Filmtheorie „Der sichtbare Mensch“. „Wie dem wütenden Tiger hinter dem Käfiggitter sehen wir auf dem Film dem gefesselten Tod ganz von der Nähe zu, mit dem angenehmen Gruseln des Bewußtseins, daß uns nichts geschehen kann. Es ist die Lust eines dumpfen, animalischen Überlegenheitsgefühl, daß wir da auf dem Film den Dingen endlich in die Augen sehen können, vor denen wir immer die Augen schließen, wenn sie in Wirklichkeit erscheinen.“

80 Jahre nach dem Erscheinen von „Der sichtbare Mensch“ lässt Apichatpong Weerasethakul, ein junger Filmemacher aus Thailand, den Tiger frei. „Tropical Malady“, sein dritter Langfilm nach „Mysterious Object at Noon“ und „Blissfully Yours“, konfrontiert den Protagonisten mit einem Tiger – und zwar auf eine Weise, die in der Tat Gefahr birgt. Denn statt Tier und Mensch durch die Montage in zwei voneinander getrennten Einstellungen einzuhegen, teilen sie sich bei Weerasethakul den Raum einer Einstellung. Kein Käfiggitter trennt das eine vom anderen Bild. Und darüber geht „Tropical Malady“ hinaus, insofern der Film auch für uns, für sein Publikum, die Sicherheit aufhebt, von der Bálazs schreibt. Selbstverständlich wird der Tiger nicht von der Leinwand herunterspringen, um uns zu verschlingen. Doch viel näher als ein Tiger im Zoo kommt er uns allemal. Spätestens dann, wenn der Tiger die ganze Leinwand füllt, wird auch uns etwas geschehen. Den Kopf richtet das Tier frontal zur Kamera aus. Sein Leib schimmert grün im spärlichen Licht der Urwaldnacht, seine Flanken heben und senken sich im Rhythmus seiner Atmung, und seinem Blick auszuweichen ist unmöglich. Spätestens dann ist klar, dass „Tropical Malady“ ein einzigartiger Film ist.

Weerasethakul eröffnet seinen Film mit einem Schriftinsert vor schwarzer Leinwand: „Wir alle sind wilde Tiere. Unsere Pflicht als Menschen ist es, uns in Dompteure zu verwandeln, damit wir das Tier in Schach halten und ihm beibringen, Aufgaben auszuführen, die seiner Tierhaftigkeit fremd sind.“ Diese Sätze entstammen einer Erzählung des japanischen Schriftstellers Ton Nakajima. Wie sie mit dem Film zusammenhängen, bleibt eine ganze Weile in der Schwebe. Denn „Tropical Malady“ besteht aus zwei Teilen, und im ersten kommt weder der Tiger vor, noch spielen Tiere eine große Rolle – mit Ausnahme einer Hündin, die an Krebs erkrankt. Stattdessen beschreibt dieser erste Teil in elliptisch montierten Szenen die Freundschaft und Verliebtheit zweier junger Männer. Tong (Sakda Kaewbuadee) wohnt mit seiner Familie in einer Hütte am Rand von Bangkok, Keng (Banlop Lomnoi) ist Soldat, Schauplatz ist mal die Großstadt mit ihren Kinos, Vergnügungsparks, Internetcafés und Garküchen, mal die ländliche Umgebung, die Hütte von Tongs Familie, eine Grotte, die zugleich als Tempel dient, ein Unterstand im Wald. Dort suchen Keng und Tong Schutz vor einem Unwetter. Während der Regen auf das Dach prasselt, schenkt Keng seinem Freund eine Kassette von The Clash; die Musik wird nicht eingespielt.

Bunt und licht ist dieser erste Teil. Mit offenem und neugierigem Blick erkundet er die subtropische, periphere Moderne, die Neonlichter Bangkoks, die leuchtenden Farben der Kleidung, die alltäglichen Verrichtungen der Figuren, ihre Arbeit- und Mußestunden, die Fluidität von städtischer und ländlicher Existenz. Es gibt keinen Plot, die Szenen sind lose verzahnt, nur durch Nebensächlichkeiten wird deutlich, dass Zeit verstreicht – etwa wenn Tong in einer Szene seine Hündin in die Tierklinik bringt und man ihn eine Weile später auf der Veranda sieht, wie er mit einem Welpen spielt. Was mit der Hündin geschehen und wie viel Zeit seit dem Besuch der Klinik verstrichen ist, bleibt unserer Vorstellung überlassen.

Oft wahrt die Kamera Distanz, als wollte sie unterstreichen, dass sie niemandem zu nahe tritt. In einer Szene küssen sich Keng und Tong gierig die Hände, Tongs Zunge leckt dabei den Raum zwischen Kengs Fingerknöcheln. Auf den Mund küssen sie sich nicht. Die Geschichte der beiden bricht ab, bevor sie die Gestalt klassischer Paarbildungsplots annimmt.

Nach etwa einer Stunde sieht es kurz aus, als verschmore im Projektor der Filmstreifen. Die Leinwand wird schwarz. Diese Zäsur markiert die Metamorphose, die Öffnung hin zum Neuen, hin zum noch nicht Gesehenen. Weerasethakul hat sich eine Legende ausgedacht. Damit bringt er die fast in Vergessenheit geratenen Sätze Ton Nakajimas wieder ins Spiel. Die Legende handelt von einem Schamanen, der sich des Nachts in einen Tiger verwandelt und Menschen reißt – von einem Menschen mithin, der das Tier in sich nicht zu zähmen versteht. Eingeblendet wird das in naiver Manier gehaltene Gemälde eines Tigers, dazu ein Schriftinsert, das die Legende wiedergibt. In einer kurzen Sequenz wird außerdem bebildert, wie man sich den Auftakt der Legende vorzustellen hat. Eine junge Frau lockt einen Nachtwächter unter dem Vorwand von seinem Hochstand, ihre kranke Mutter brauche Hilfe. Als der Mann hinter der Frau durch das hohe Gras geht, sieht er, wie unter ihrem Rock ein Tigerschwanz hervorragt. Er erschießt den Tiger-Menschen, doch dessen Geist ist damit nicht gebannt. Der Tigerschwanz unter dem Rock nimmt die Wirkungsweise der kommenden Illusionseffekte vorweg. Man sieht eine Schauspielerin, unter deren Rock ein Schwanz aus Plüsch hängt, und zugleich sieht man den Tiger-Schamanen, den shape shifter. Man durchschaut die Täuschung und verfällt ihr im selben Augenblick.

Keng, der Soldat aus dem ersten Teil, bricht auf, um den Tiger-Schamanen, den shape shifter, zu erlegen. „Tropical Malady“ betritt damit ein besonderes Terrain: den Wald. Allein der Lichtverhältnisse wegen ist das ein spezieller Ort; nicht zufällig lässt Akira Kurosawa „Rashomon – Das Lustwäldchen“ (1950), seine fulminante Studie über die Unmöglichkeit, die Wahrheit über ein Verbrechen zu kennen, in einem Wald spielen. Wo das Licht durch die vom Wind bewegten Blätter fällt, entsteht ein Terrain der Uneindeutigkeit, des Schillernden, des Chiaroscuro. Claude Lévi-Strauss nannte den Wald vor 50 Jahren „ein Universum im Kleinen, das den Menschen ebenso vollständig isoliert wie eine Wüste. Eine Welt aus Gräsern, Blumen, Pilzen und Insekten führt darin ein unabhängiges Leben, in das aufgenommen zu werden von unserer Geduld und Bescheidenheit abhängt. Ein paar Meter Wald genügen, um die Außenwelt aufzuheben; ein Universum weicht dem anderen, in dem weniger das Auge als das Gehör und der Geruch, jene der Seele näher stehenden Sinnesorgane, auf ihre Kosten kommen.“

Bunt und licht ist der erste Teil; mit offenem Blick erkundet er die subtropische Moderne, die Neonlichter Bangkoks

Der Wald, in dem Keng Jagd auf den Tiger macht, ist ein solches Universum. Die Sträucher, Bäume und Schlingpflanzen, das hohe Gras und die Lianen bilden ein labyrinthisches Reich, das das Licht schluckt und die Geräusche deshalb umso stärker resonieren lässt. Meistens ist ohnehin Nacht. Trockenes Laub bedeckt den Boden und raschelt, hinzu gesellen sich die Geräusche der Tiere, was in der Summe eine reiche, komplexe Tonspur erzeugt. Das Blattwerk schillert als grüner Reflex im Gesicht der menschlichen Figur. Der Wald in „Tropical Malady“ ist wie eine Hauptfigur; er agiert – zum Beispiel sendet er Glühwürmchen aus, die einen einzeln stehenden Baum in einen fluoreszierenden Körper verwandeln. Weit vom Baum entfernt steht die Kamera, während von links ein neuer Leuchtpunkt sich nähert. Weil sich die Glühwürmchen zwischen den Ästen und Blättern bewegen, sieht es aus, als pulsiere der Baum. In einer anderen Sequenz erlegt Keng eine Kuh, und aus dem Kadaver fährt ein Schemen auf. Weißlich-durchscheinend schreitet er einen Hohlweg entlang, bis er sich in der Bildtiefe auflöst. Wie zuvor schon erkennt man den Illusionseffekt und erliegt ihm gleichwohl.

In diesem Wald gibt es keine menschliche Sprache, nur ein Affe ist des Sprechens mächtig: „Der Tiger folgt dir wie ein Schatten“, sagt er zu Keng, wobei sein Schnattern von Untertiteln in eine intelligible Form gebracht wird. „Er ist hungrig und einsam“, fährt der Affe fort, „du bist seine Beute und sein Gefährte.“ Jagt Keng den Tiger? Oder der Tiger Keng? So viel weiß der Affe: Sollte Keng den Tiger töten, so erlöst er dessen Geist, sollte er sich von ihm fressen lassen, so tritt er selbst in die Geisterwelt ein. Vor diesem Hintergrund gewinnen die Szenen der ersten Filmhälfte neues Gewicht. Denn wenn es Tag ist und er in Menschengestalt auftritt, wird der Tiger-Schamane von dem Schauspieler gespielt, der zuvor Tong verkörperte. Keng jagt also seinen Geliebten, und umgekehrt jagt Tong Keng. Was ihnen im Wald widerfährt, ist die Schattenseite der heiteren Szenen des ersten Teils, ist eine Liebe, die sich nicht im zarten Verliebtsein erschöpft, sondern dunkel wird, insofern sie dem Selbstverlust im Geliebten zustrebt. So wie der Tiger-Schamane, so wechselt auch die Liebe zwischen Keng und Tong die Gestalt.

Doch ist dies bei weitem nicht die einzige Möglichkeit, den zweiten Teil von „Tropical Malady“ zu verstehen. Genauso gut lässt sich sagen, dass Keng, je weiter er in den Wald vor-, umso tiefer in sich selbst eindringt, dass er, je näher er dem Tiger kommt, umso mehr der eigenen Tierhaftigkeit und der titelgebenden „malady“ verfällt. Vielleicht strebt er der abschließenden Metamorphose zu, die sein Tod wäre, ohne dass er sie fürchtete – mit dem angenehmen Gruseln des Bewusstseins, dass ihm etwas geschehen kann. Das Schönste an „Tropical Malady“ aber ist, dass sich der Film der Entschlüsselung entzieht. Er ist viel zu konkret, viel zu physisch, als dass er in einer Erklärung aufginge. „Tropical Malady“ ist selbst ein shape shifter – nicht nur, weil er in seinem Verlauf die Gestalt ändert, sondern mehr noch, weil er sich verwandelt und entzieht, sobald man ihn festlegen will. Das Pulsieren, das daraus resultiert, gehört zum Aufregendsten, was man zurzeit im Kino sehen kann.

„Tropical Malady“. Regie: Apichatpong Weerasethakul. Mit Banlop Lomnoi, Sakda Kaewbuadee u. a. Thailand/ Frankreich/Deutschland/Italien 2004, 118 Min.