: Die Sehnsucht der Lifestyle-Linken
Einige haben sich nach der Bundestagswahl einem neuen Projekt verschrieben: die strukturelle linke Mehrheit in Deutschland müsse regierungsfähig werden. Unsinn. Die gesellschaftlichen Realitäten kümmern sich nicht um die Machtperspektiven von Milieus und Parteien. Sie sind längst weiter
VON JAN FEDDERSEN
Sie können es nicht lassen – Menschen, die sich als Linke verstehen und alle Fragen der Welt danach überprüfen, was sie mit ihnen selbst, also „der Linken“ zu tun haben. Das war auch nach dem 18. September so, als im Laufe des Abends ja sonnenklar wurde, was da regierungstechnisch, von der KanzlerInnenfrage abgesehen, auf Deutschland zukommt. Eine große Koalition – eine, deren parlamentarische Opposition sich aus den Gelben, Roten und Grünen zusammensetzen würde. Aber in der Woche nach der Bundestagswahl durfte, mit dem üblichen Sandkastenbesteck linker Politikanalyse bewehrt, noch mal geträumt werden.
Gegen die Konterrevolutionäre
Programmatisch gehe es doch auch mit Rot-Rot-Grün, hieß es – als ob es je zuvörderst auf schriftlich Vereinbartes angekommen wäre; Jamaica oder die Schwampel, die sei doch auch schön, das Grüne passe famos zur Union – als hätte die Union nicht noch bis zur Schließung der Wahllokale so getan, als handele es sich bei den Parteiökos um die Fünften Kolonnen zur Untergrabung abendländischer Fundamente; auch die Ampel war noch im gedanklichen Spiel – was völlig ausblendete, dass die Gelben mit den Roten niemals hätten koalieren dürfen, denn die eigene Kundschaft wäre wutsprühend auf ihre Barrikaden gestiegen. Auffällig vor allem aber war, mit welch glühender Restenergie die letzte Große Erzählung (François Lyotard) vorgetragen wurde – und vom Publikum unbeachtet gelassen wurde: Die Große Erzählung von der Linken, die nur auf neurotische Streitereien verzichten müsse, um es den Konterrevolutionären (das sind ihnen Union und Liberale) „unverrückbar“ (so das PDS-nahe Journal Ossietzky) zu zeigen.
Wie engagiert der Konflikt geführt wird, zeigte auch ein Aufsatz von Ulf Poschardt in der taz, der links gesinnte Aufregungen um den Abschied von Rot-Grün kühl zurückwies und darauf beharrte, dass es jetzt darauf ankomme, das Ressentiment gegen die Bundesrepublik als zivilisiertes Deutschland zu reflektieren und sich, gut (meinetwegen: verfassungs-)patriotisch, auf die Probleme zu konzentrieren, die es in unserem Land ohne Zweifel zu lösen gebe. In der Süddeutschen Zeitung replizierte ihm Diedrich Diederichsen („Neoliberal ist cool“), es sei „immer die albernste Konstante aller Herzblutrenegaten, dass sie ihre Konversionen stets als wahnsinnig riskante Rebellion beschreiben“ müssten. Poschardt bekam im Übrigen die rote Karte allein schon deshalb, weil er behauptet habe, ein Linker mal gewesen zu sein. Was auch immer all diese Linken je waren oder sind – zu beiden lässt sich vor allem sagen, dass sie ihre Herzensbildung aus der Beschäftigung mit Musik (und Kulturellem überhaupt) gewonnen haben, veröffentlicht gern in Illustrierten wie der Spex oder dem Süddeutschen Magazin – und dass sie, auf je eigene Weise, aus Rillen das Wachsen des emanzipatorischen Grases heraushören wollten: Ist das ein rebellischer Klang?
Um mit dem amerikanischen Soziologen Richard Rorty zu antworten: Poschardt wie Diederichsen und all den anderen deutschen Projektlinken ist das Linke eine identitäre Veranstaltung, eine, in der es um Kulturelles geht, vor allem um das Gefühl, die besseren Analysen, die klügeren Perspektiven und ausgefuchstesten Strategien zu liefern. Im Grunde die edelste Art, rechthaberisch zu sein, ohne sich je einem Praxistest ausliefern zu müssen. Rorty schrieb dieser Linken in seinem Essay „Stolz auf unser Land. Die amerikanische Linke und der Patriotismus“ ins Gemüt ein, die Neue Linke, die aus den Kulturkämpfen der Sechziger heraus entstand, habe sich immer nur um Finessen und Raffinessen gekümmert – und, sozusagen, den einfachen Mann, die einfache Frau auf der Straße aus dem Blick gesperrt. Mehr noch: sie zu Spießern, intellektuell Ohnmächtigen (und Erhellungsbedürftigen!) erklärt.
Rortys Analyse ist auf deutsche Verhältnisse exzellent zu übertragen: Lasst die Identitätssuche und nehmt die Probleme in den Blick. Die Labels, die Überschriften, die Brands, so gesehen, können keine Rolle spielen. Die alten Feindseligkeiten – die letzten Seufzer alter Lagermentalitäten im Sinne des Freund-Feind-Schemas Carl Schmitts – sind doch fast marginalisiert. Die Große Koalition des Jahres 1966 – da stand die außerparlamentarische Republik tatsächlich auf der Straße und nahm diese Formation als heimliche Ermächtigung der Vierten Republik gegen das demokratische Versprechen des Grundgesetzes. Und heute? Angela Merkel und Franz Müntefering, supported in den Koalitionsverhandlungen durch einen gut gelaunten Gerhard Schröder: kein Aufreger nirgends. Die Republik fürchtet nichts Schlimmes, nicht einmal die Auslöschung demokratischer Verfahrensformen.
Der Ton ist auf das Management der Probleme gestimmt. Auch in dieser Hinsicht scheinen die großkoalitionären Parteien volksnäher als ihre linken „Querdenker“. Man hat sich auf MinisterInnen verständigt, die als vorzeigbar gelten – und erntet allenfalls Mäkelei an ihnen, weil man ihnen eine Neigung zum Technokratischen attestiert: Als ob die Fähigkeit, Apparate im Sinne der Problemlösung zum Funktionieren zu bringen, nicht gerade das ist, was jetzt gebraucht wird. Visionen? Das deutsche Wahlvolk schätzt offenbar keine Gemütszustände aus dem Reich des spirituellen Gewölks: Visionen hatte man genug, auch die grüne oder ostrote Wählerschaft pflegt sie nur noch als Make-up intellektuellen Lifestyles. Man verlegt sich in Ruhe auf die Beobachtung dessen, was da kommt: In vier Jahren wird ja wieder gewählt.
Deutschland hat sich an zivilisierte Umgangsweisen gewöhnt – wofür selbst die Nichtwahl des ja in jeder Hinsicht akzeptablen Lothar Bisky zum Bundestagsvizepräsidenten steht. Dass die Linkspartei in diesem Gremium einen Stuhl besetzen darf, stellte ja selbst die Union nicht in Frage: Es ging offenbar nur um eine letzte Geste des Missfallens über die Geschichte dieser Partei. Die sonstigen Zeichen stehen auf Integration dieser Partei – mit Hilfe bürgerlichen Respekts.
Zu verhandeln ist nicht das Schema links gegen rechts; zu öffnen ist die Perspektive auf das, was von der politischen Substanz zuträglich ist – von und für wen auch immer: Kann die Arbeitslosenzahl gesenkt werden? Wird die Bildungspolitik darauf gerichtet sein, gerade die proletarischen (mehr und mehr: migrantischen) Schichten zu fördern? Wie kann es gelingen, verelendende Gebiete (in Ostdeutschland, im Ruhrgebiet) vor der Verslumung zu bewahren? Welche Impulse braucht es, um das multikulturelle Vermögen unseres Landes zu nutzen? Wie schafft man es, ein Sparprogramm zu konzipieren, das sich nicht allein auf die Schröpfung der Armen richtet? Welcher Weg ist der richtige – der, der sozialstaatliche Förderung direkt auszahlt (per Sozialhilfe) oder sie institutionell bindet (und in Schulen, Horte, Universitäten, Bürgerzentren steckt)? Und schließlich: Wie könnte die Nörgel- und Meckerstimmung („the typical German weltschmerzy sound“, New York Times) ausgehebelt werden – gerade bei jenen, die, materiell gesehen, wenig zu nörgeln haben, die Kulturlinke zum Beispiel?
Blind für den linken Triumph
Um abermals mit Richard Rorty, einem scharfen Kritiker George W. Bushs und zugleich glühendem Patrioten, zu sprechen: Die deutsche Linke, die identitätsbewusste, sieht den eigenen Triumph nicht. Was sie, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung nicht mal mehr ächzend immer wieder anmerkt, zu bewirken vermocht hat. Dass Deutschland ein demokratisches, liberales Land unter anderen ist. Wenn schon ein Unionspolitiker wie der Bundestagspräsident Norbert Lammert eine Leitkulturdebatte vorschlägt – und nichts als Grundgesetz meint, ohne Spur von deutschem Michel und Pickelhaube, dann sollte einem das als gestandenem Linken zu denken geben. Da redet einer verfassungspatriotisch und nicht mehr von Herzen, das sich die strengen, postnazistischen (falschen) Fuffziger zurücksehnt. Auch dieser Mann sieht im politischen Opponenten keinen Feind mehr, nur noch einen Träger einer gegnerischen Argumentation, einen Vertreter anderer Interessen. Das ist ein Fortschritt. Nicht mehr, nicht weniger.