Die Debatte um Hartz-IV-Missbrauch gefährdet Verbesserungen : Unglückselige Schubumkehr
Eine Art Schubumkehr hat in der Hartz-IV-Diskussion stattgefunden. Bis vor zwei Wochen war es klar, dass die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe große Härten mit sich brachte, die in einem sorgsamen Revisionsprozess ausgeglichen werden müssten. Erster Schritt war die zum 1. Oktober eingeführte Erweiterung der Möglichkeiten, sich ein Zubrot zu verdienen.
Von den Koalitionsverhandlungen wurde erwartet, dass auch dort über Verbesserungen für ältere Arbeitnehmer oder die Angleichung der Arbeitslosengeld-II-Sätze Ost und West geredet werde. Die große Koalition werde es sich doch wohl nicht nehmen lassen, neben absehbaren Zumutungen wenigstens das Monster Hartz IV aufzuhübschen.
Nichts dergleichen. Arbeitsminister Wolfgang Clement veröffentlicht als letzte Amtshandlung eine Broschüre, die mit reißerischer Propaganda nur diplomatisch beschrieben ist. Frei von Zahlen wird dort behauptet, dass das Hartz-IV-Gesetz vom lotterlebigen Volk missbraucht werde. An den Koalitionsarbeitstischen starren die Verhandler derweil in ein Finanzloch: Hartz IV kostet 12 Milliarden Euro mehr als geplant.
Die beiden Botschaften werden jetzt bewusst vermengt: Hartz IV ist zu teuer geworden, schuld sind die Arbeitslosen, die abzocken. An diesem durchsichtigen Theaterstück beteiligen sich mittlerweile sogar die Kronzeugen der Hartz-Abmilderungs-Ära: Gestern erklärte einer der drei Ombudsräte, der noch im Sommer etwa für eine Angleichung der Ost-West-Regelsätze plädierte, nun seien aber wirklich schärfere Kontrollen nötig. Wer so redet, riskiert, dass bald nicht nur die Zahl der Empfänger von Hilfe zur Debatte steht, sondern auch die Höhe des Regelsatzes noch einmal angegriffen wird.
Derart irrationales Verhalten wäre mit begütigender Küchenpsychologie zu erklären – Schuldprojektionen und so weiter –, handelte es sich nicht um Politiker. Diese Leute wissen, womit sie der Öffentlichkeit einheizen müssen, um Zustimmung für weitere Kürzungen zu bekommen. Die Figur des Sozialmissbrauchers ist offenbar international patentiert – in den USA war es die „Welfare Queen“ –, um den Schwächsten der Gesellschaft das Mitgefühl der Stärkeren zu rauben. Wie ekelhaft, dass die deutschen Sozialdemokraten das mitmachen – statt sich einzugestehen, dass Hartz IV ein schlechtes Gesetz auf schlechter statistischer Basis war, das schlecht umgesetzt wurde.
ULRIKE WINKELMANN