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Archiv-Artikel

Frischluft statt Therapiezimmer

Statt Geld in teure Therapien zu investieren, sollte es in Kindergärten gesteckt werden, um die Entwicklung von Kindern anzuregen. Daran mangelt es

VON SABINE AM ORDE

Dennis versucht, auf einem Bein zu hüpfen. Mit Mühe schafft der Fünfjährige einen Sprung, dann kippt er zur Seite. Dem Jungen fällt es schwer, auf der weißen Linie zu balancieren, die auf den Boden der Kinderarztpraxis in Berlin-Spandau aufgeklebt ist. Und als der Arzt ihm in drei kurzen Sätzen die Geschichte von Max und seiner Mutter erzählt hat, die gemeinsam ein Fahrrad kaufen, kann Dennis einfache Fragen dazu nicht beantworten. Ein Fünfjähriger sollte das können. „Das war jetzt ein typischer Fall“, sagt Kinderarzt Ulrich Fegeler später. „Der Junge bekommt zu Hause viel zu wenig Anregungen für eine normale Entwicklung. Wahrscheinlich verbringt es die meiste Zeit vor dem Fernseher und am Gameboy.“

Der Arzt hat dem Vater geraten, seinen Sohn in den Sportverein zu schicken, mit ihm auf den Spielplatz und in den Wald zu gehen und ihm öfter mal ein Buch vorzulesen. „Bei manchen Eltern könnte das nützen.“ In vielen vergleichbaren Fällen hat Fegeler diesen Eindruck nicht. Dann verschreibt er eine Ergotherapie. Zwar könne die Therapie jahrelange Versäumnisse nicht ausgleichen. Aber sie sei immer noch besser als nichts. „Letztlich aber“, sagt Fegeler, „wird hier ein soziales Problem medikalisiert.“

Viele Ärzte scheinen so zu denken. Immer mehr Kinder werden in den ersten zehn Jahres ihres Lebens ergotherapeutisch behandelt. Das gilt besonders für Jungen zwischen fünf und zehn. Nach einer Studie, die die Bremer Gesundheitswissenschaftler um den Pharmakritiker Gerd Glaeske im Auftrag der Gmünder ErsatzKasse (GEK) durchgeführt haben, war 2004 jeder zehnte GEK-versicherte Junge in dieser Altersgruppe in ergotherapeutischer Behandlung. Allein im Vergleich zum Vorjahr, als die GEK diese Zahlen zum ersten Mal erhob, ist das eine Steigerung um 9 Prozent. Rechne man dies hoch, meint Mitautorin Elke Scharnetzky, dann würden in rund 27 Jahren bundesweit alle Jungen in dieser Altersgruppe behandelt.

Einen repräsentativen Durchschnitt der Bevölkerung bilden die eine Million GEK-Versicherten freilich nicht. Vergleichbare Daten von anderen Kassen gibt es nicht. Dennoch gehen die Experten davon aus, dass die Tendenz der GEK-Studie stimmt. Der Stellenwert der Ergotherapie bei Kindern wird in Fachkreisen derzeit kontrovers diskutiert.

Die Bremer Wissenschaftler stellen vor allem Vermutungen darüber an, warum immer mehr Kinder Ergotherapie bekommen. Vielen von ihnen, so die Annahme, gehören da eigentlich nicht hin. Scharnetzy glaubt, dass zunehmend der Nachwuchs ambitionierter Mittelschichtseltern in die Praxen drängt. Aufgeschreckt durch Untersuchungen wie die Pisa-Studie, wollen sie ihren Kindern die bestmögliche Förderung zukommen lassen. „Und dazu gehört neben dem Ballett und Tennis bei der kleinsten Schwierigkeit eben auch die Therapie.“ Belege dafür gibt es in der Studie nicht. Nur eines schließt sie eindeutig aus: Entscheidend für die Menge der Verordnungen ist nicht die Anzahl der niedergelassenen Therapeuten. Denn in Schleswig-Holstein werden besonders viele Kinder behandelt, die Therapeutendichte aber ist eher gering. In Sachsen-Anhalt ist es genau umgekehrt.

Für Hans-Georg Schlack sind Ergotherapien „zum großen Teil Alibiveranstaltungen“. 26 Jahre lang hat der Professor das Kinderneurologische Zentrum in Bonn geleitet, viele Jahre lang war er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin. In dieser Zeit ist er vom begeisterten Therapieverfechter zum scharfen Kritiker geworden: „Das ist verschwendetes Geld, das besser investiert werden könnte.“ Durchschnittlich kostet eine Therapie laut GEK 780 Euro pro Kind und Jahr.

Schlack sieht durchaus ein großes Problem bei der Entwicklung vieler Kinder: „Sie schauen zu viel Fernsehen, sie haben Spielsachen, die sie passiv machen, sie gehen kaum noch zu Fuß – der Prozess der aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt geht verloren.“ Genau diese Auseinandersetzung aber sei für die Entwicklung zentral. Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass bei etwa einem Drittel aller Kinder Entwicklungsauffälligkeiten zu verzeichnen sind.

Schwierig wird es meist, wenn die Kinder – wie beim Schuleintritt – mit Ansprüchen konfrontiert werden, auf die sie nicht vorbereitet sind. „Dann kriegen die Eltern Angst“, sagt Schlack, „und drängen beim Kinderarzt auf eine Ergotherapie.“ Unterstützt werden sie dabei häufig von den Lehrerinnen. Betroffen sind vor allem Mittelschichtskinder, obwohl das Problem in bildungsfernen Schichten besonders stark ausgeprägt ist. „Aber diese Kinder kommen nicht in die Ergotherapie.“

Auch die klassischen Spätentwickler landen laut Schlack in der Behandlung, „weil sowohl bei Eltern als auch bei Ärzten zu wenig bekannt ist, wie groß die ganz normale Variationsbreite ist“. Häufig sei zudem die Diagnose der Kinderärzte unklar, sodass es keinen klaren Ausgangspunkt für die Therapie gibt.

„Es gibt eine magische Therapiegläubigkeit“, urteilt Professor Hans-Georg Schlack. „Dabei gibt es keine wissenschaftlichen Untersuchung, die belegt, dass Ergotherapie Kindern in ihrer Entwicklung weiterbringt.“ Wenn Kinder von einer Therapie zur nächsten geschleppt würden, könne sich das sogar negativ auswirken. „Die Botschaft lautet dann ja: Du bist nicht in Ordnung.“

Die Bremer Gesundheitswissenschaftler empfehlen, die ärztlichen Indikationen für die Ergotherapie enger zu fassen und die Verordnungen neu zu regeln. In der Schweiz, wo es ebenfalls eine starke Zunahme von Therapien für Kinder gab, ist das seit dem vergangenen Jahr der Fall. Schlack hat vor allem die Kindertagesstätten im Blick. Hier müsse eine gezielte und verlässliche Förderung der Kinder stattfinden, wenn die Familien dazu nicht in der Lage seien. „So könnte das Problem zumindest verkleinert werden.“

Ähnlich sieht es der Berliner Kinderarzt Fegeler. Er hat deshalb ein Modellprojekt angeregt, in dem Kinder sprachlich und motorisch gezielt gefördert werden. Der Erfolg war so groß, dass zwei Berliner Bezirke das Programm jetzt in allen städtischen Einrichtungen einführen.