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Archiv-Artikel

Landpartie mit Lippmann

AUS DER ALTMARK STEFAN RUWOLDT

Jürgen Lippmann hat sich eine Tour zusammengestellt. „Um neun“, sagt er, „um neun geht’s los.“ Heute ist der dritte Tag – nach In-Kraft-Treten der Stallpflicht für Geflügel in Deutschland, nach ersten Fällen von Vogelgrippe in Osteuropa. Lippmann sucht Formulare zusammen, er muss vor seiner Kontrollfahrt durch die Altmark in Sachsen-Anhalt „noch schnell zum Chef“. Auf dem Weg über den Flur ins Büro von Friedrich Fünfarek, Amtstierarzt in Stendal, erklärt Lippmann kurz seinen Job: „TGA“, sagt er, „Tiergesundheitsaufseher“. Er weiß, dieser Titel erklärt nichts. Später wird er erzählen, dass er in der DDR ein Fachschulstudium zum Veterinäringenieur absolviert, lange in einer Tierarztpraxis gearbeitet hat und nun im Veterinäramt angestellt ist. Lippmann ist Stendaler und kennt sich aus. Er kennt die Tiere, er kennt das Land, und er kennt die Bauern und Tierhalter. „Aber was mich heute erwartet, weiß ich nicht“, sagt Lippmann.

Amtstierarzt Fünfarek sitzt am Computer und fragt Lippmann, ob alles klar sei „mit der Tour“. Der nickt. Fünfarek hat den Erfahrungsvorsprung der letzten Tage, in denen ihn und seine Mitarbeiter viele Bauern und Tierhalter angerufen haben – ratlos, unsicher, manche sogar etwas verzweifelt. Lippmann dagegen hatte frei. Bis heute. Fünfarek sagt, dass man nun aufklären müsse, anleiten und unterstützen. Er redet in kurzen Sätzen. Er gibt eine Art Devise aus für Lippmanns Tour, der nun draußen kontrollieren soll, ob sich die Leute an die Vorgaben halten: „Grundtenor ist: Keine Panik. Wir werden jetzt in den ersten Tagen keinen übers Knie legen. Wir machen vor allem da Stichproben, wo wir die Leute schon früher mal aufs Korn nehmen mussten.“ Lippmann nickt und holt seinen Autoschlüssel.

„Nur mal gucken“

„Nordtour“, wie Lippmann seine Route für diesen Tag nennt, heißt: Besuche in den Dörfern nördlich von Stendal. Klein Ellingen, Baben, Goldbeck heißen die, Walsleben, Hindenburg und Beelitz. Den Beutel mit den ulkigen Plastikschutzanzügen packt Lippmann in den Kofferraum. „Es geht ja darum, zu kucken und zu sagen, wie die Ställe auszusehen haben. Wenn ich da gleich mit meinem Schutzanzug komme, werden die Leute nur nervös. Ich sage kurz, warum ich da bin, werde zu den Ställen gehen und, wenn es geht, die Sache von draußen inspizieren.“ Die Leute seien verunsichert genug und „machen sich gegenseitig fertig“.

Lippmann fährt am „Pkw-Handel Filipp“ vorbei in den Butterbeutelweg in der Nähe des Hauptbahnhofs von Stendal. „Hier hat einer angerufen. Bei der Polizei und anonym: ‚Im Butterbeutelweg laufen Hühner frei rum.‘ “ Lippmann steigt aus, wirft einen Blick runter zur Bahnböschung. Da: zwei kleine Ställe. „Zu“, sagt er. „Kein Huhn.“ Dann steigt er wieder ins Auto: „Man ärgert sich, wenn man sieht, dass die Leute anrufen, weil sie wahrscheinlich ihre Nachbarn nicht leiden können.“ Er holt seinen Stift raus und macht kopfschüttelnd eine Notiz, die er sich laut und langsam selbst diktiert: „Neun Uhr fünf. Kein Geflügel angetroffen.“ Lippmann gibt Gas.

In Klein Ellingen ist es matschig auf dem Hof von Günter Schneider. Lippmann springt mit seinen Lederschuhen ein wenig ungelenk der Frau des Geflügelzüchters hinterher, die ihn in Gummistiefeln zu den Vogelvolieren führt. „Mein Mann schläft“, sagte sie. „Nein, nicht wecken“, sagt Lippmann und kommentiert, was er sieht: „Ja, hier die Puten. Auch die Fasane. Hühner. Enten. Und die Gänse.“ Die Abdeckplanen über den Käfigen würden ausreichen und seien, wie er sehen könne, dicht. „So kann es bleiben.“ Dann lobt er noch einmal alles und macht auf die Tupferproben durch den Tierarzt aufmerksam, die nun bei dieser Haltung in Volieren regelmäßig notwendig seien. Auf das „Ach du lieber Gott, das wird ja ganz schön kostspielig“ der Bäuerin ist er vorbereitet. Er nickt, hebt bedauernd die Schultern, lobt noch mal alles, sagt, dass sie ihren Hof vorschriftsmäßig präpariert habe: „Gut untergebracht. Alles in Ordnung. Sie können sich wegen der Proben an die Tierseuchenkasse wenden und dort Unterstützung beantragen.“ Die Landwirtin bringt Lippmann zum Tor.

In Baben, auf dem Hof von Kurt-Heinz Martin, kann Lippmann nichts mehr tun. Martin hat sich entschieden. „Um 17 Uhr gehen die ab. 14 Tiere. Zum Schlachter“, sagt der Jäger und Hobbylandwirt. Die Gänse seien zwar im Stall, doch das sei keine Lösung. Lippmann fragt, ob er keine andere Möglichkeit habe. Martin lächelt: „Nee. Ich habe nur diesen einen Stall. Schafe und Gänse vertragen sich da nicht.“ Natürlich sei es ein bisschen früh für Weihnachtsgänse, aber wozu gebe es Gefriertruhen.

Martin sagt, als Jäger wisse er, dass die Vogelgrippe mit dem Vogelzug aus dem Osten immer näher rücke.

Wieder im Auto, diktiert Lippmann sich selbst: „Vorortkontrolle. Zehn null fünf bis zehn Uhr fünfunddreißig.“ Dann blickt er hoch, sieht, wie ihm Martin in der Einfahrt zusieht und ihn mit einem kurzen Kopfnicken verabschiedet. Er legt den Block weg und zuckt mit den Schultern, als er das Auto startet: „Nee, da kennen die nüscht. Der sowieso nicht. Der ist Jäger.“

Dann lieber schlachten

Lippmann ist erleichtert: „Die Leute merken, dass sie reagieren müssen.“ Er hat mit Unmut gerechnet, bei manchen Besuchen sogar mit Beschimpfungen. Doch die Bauern sehen offenbar ein, dass die Vorschriften, wenn auch schwierig durchzusetzen, ihren Tieren helfen. „Natürlich fehlt den Tieren jetzt noch was, damit man sie dann auch möglichst fett im Topf braten kann“, sagt er. Aber Schlachten sei für viele Bauern offenbar am günstigsten.

Bei den Kontrollen zu Vor-Vogelgrippe-Zeiten habe es zwei Kategorien unter den Tierhaltern gegeben: „Die einen, die alles machen, um ihr Geflügel ordentlich unterzubringen. Und die anderen, die einen beschimpfen, weil sie uns als Kontrolleure als das Übel ansehen.“ Die Angst vor der Vogelgrippe hat offenbar die Leute der zweiten Kategorie zur Räson gebracht.

Für den Besuch des Hofs von Manfred Schneider in Goldbeck muss sich Lippmann mit einer Zigarettenpause präparieren. Manfred Schneider hat sehr viel Geflügel. Und mit Manfred Schneider hatte Lippmanns Behörde schon „größere Diskussionen um die Tierhaltung“. Aber Schneider lacht, als er mit seinem Traktor auf den Hof fährt und das Auto des Veterinärs entdeckt. Er grüßt freundlich und fragt Lippmann, „was das denn nun soll: Erst der Zauber um BSE und jetzt das?“ Aber er erwartet offensichtlich keine Antwort. Er dreht sich um und führt Lippmann über den Hof.

Lippmann gibt sehr bald auf, nach seichteren Stellen im Schlamm zu suchen. Er steigt Schneider durch die Pfützen hinterher zu den Ställen, blickt skeptisch auf den Verschlag mit den Gänsen, schaut dann rüber zu den Perlhühnern. Zwischen Zaun und Dach klafft eine etwa einen Meter breite Lücke, die Planen über dem Gatter hat der Wind aus ihrer Verankerung am Zaun geweht. Lippmann erklärt vorsichtig, dies sei „ein klarer Verstoß und darum abzustellen“. Schneider fällt ihm ins Wort: „Ich sag mal, die Gänse sind so laut, wer soll denn da reinfliegen?“

Doch bevor Lippmann reagieren kann, sieht Schneider schon alles ein, erklärt aber zuvor sein Dilemma: dass die Perlhühner sich nicht mit den Hühnern vertragen und dass die Gänse die Enten töten, wenn man sie mangels Platz zusammensperrt.

Lippmann geht, unter Hinweis auf geltende Verordnungen. Schneider kündigt umfangreiche Schlachtungen in den nächsten Tagen an. Und er verspricht, bis morgen die Käfige vorschriftsgemäß zu präparieren. Lippmann nickt und kündigt eine erneute Kontrolle an. Schneider nickt ebenfalls und lenkt ein: „Dit akzeptiere ich.“

Lippmann braucht lange für die Notizen über den Schneider’schen Hof. Aber er ist erleichtert. Beim Losfahren sagt er: „Das wird schon. Nur hoffentlich schnell.“

Auf seinem Hof in Hindenburg begrüßt Reiner Fricke Lippmann mit aufgekrempelten Ärmeln. Er hält ihm den Ellbogen zur Begrüßung hin: „Ich bin beim Schlachten.“ Fricke deutet auf den Hauklotz vor der Scheune. Lippmann nickt wissend: „Ach ja, da liegt der Rest.“ Im Hauklotz steckt das Beil, davor liegen die Köpfe der Vögel. Fricke erzählt, dass er bereits Abnehmer für den Großteil seiner 130 Enten, 29 Gänse und 15 Hühner hat. Für ihn sei es schon finanziell kaum möglich, alle Tiere „vernünftig“ unterzubringen.

„Keine Katastrophe“

Jutta Bretschneider in Beelitz ist gerade zurück vom Markt in Seehausen. Sie sagt, Lippmann müsse verstehen, dass sie auf Hygiene achte. Er müsse die Schutzkleidung anziehen. Sie wolle nichts riskieren und lasse derzeit niemanden von außen auf ihren Hof. Lippmann nickt, und nach drei geübten Handgriffen steht er in seiner Plastikhülle neben Bretschneider.

Bäuerin Bretschneider ist in Eile, um halb fünf müssen die Ziegen gemolken werden. Sie zeigt auf den alten Stall: „Da wären jetzt eigentlich die Ziegen drin. Nun stehen da die Gänse und Enten.“ Die promovierte Agrarwissenschaftlerin ist 52 Jahre und betreibt mit nur einem Angestellten ihren Hof: 50 Ziegen, 40 Lämmer, 2 Kälber, 2 Kühe, mehr als 500 Stück Geflügel. „Ein Ökohof? Nein, mein Betrieb ist eher ein konventioneller Betrieb mit Kreislaufwirtschaft“, erklärt sie, „in den ich die Produkte meiner Landwirtschaft wieder einfließen lasse.“ Aus ihrem Verkaufswagen holt sie den selbst produzierten Schafskäse, reicht ihn Lippmann. Eier, sagt sie, sind ausverkauft. „Mein Prinzip ist Offenheit. Jeder kann sich hier ansehen: Was kriegen die Tiere und wie stelle ich meine Produkte her.“

Aber die Fragen auf dem Markt werden mehr: Frau Bretschneider, wie geht es denn den Hühnern. Leiden sie? Oder: Hat sich unsere Weihnachtsgans denn schon mit dem Stallleben abgefunden? Dann erklärt Bretschneider ihre Prioritäten beim Umgang mit den neuen Bestimmungen: „a) Den Viechern muss es auch weiter gut gehen. b) Ein bisschen mehr kann man sich in einer solchen Ausnahmesituation schon zumuten. c) Bei der Vogelgrippe handelt es sich nur um ein Problem, keine Katastrophe.“ Und etwas Neues hat sie auch gelernt. Ihre Gänse kannten immer nur Körner und natürlich das Grüne von der Wiese. Möhren haben sie noch nie angerührt. Jetzt wirft sie ein paar Möhren in den Stall und freut sich: Die Gänse schreien und stürzen sich darauf.