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Ein sanftes Krachen

2016 Was haben die Berliner in Deutschlands beliebtester Silvester-Destination zum Jahreswechsel unternommen? Sechs Berichte jenseits vom Brandenburger Tor

Peng! Foto: imago

Für die Dealer war Silvester wie Weihnachten. In mehreren Reihen standen sie um zehn Uhr abends am U-Bahnhof Görlitzer Park. Auffälliger ging’s nicht. Jeder und jede, die nach Party aussah – und das waren in dieser Nacht alle –, bekamen Gras zum Kauf angeboten. Auch auf der Wiener Straße und an den Eingängen zum Görlitzer Park war das so. Angst vor Polizisten musste Silvester keiner haben. Die waren alle auf der Partymeile am Brandenburger Tor.

Die Beruhigungsversuche waren von ganz unterschiedlichen Seiten gekommen, vom CDU-Innensenator, der zum Feiern ermutigt hatte, bis hin zur taz-Kollegin. Und doch blieb da dieses unangenehme Gefühl im Bauch bei dem Gedanken, am Silvesterabend Teil einer jener großen Menschenansammlungen zu sein, die zumindest theoretisch nahe liegendes Ziel eines Terroranschlags wären. Es sollte glücklicherweise zumindest nicht die Großparty am Brandenburger Tor mit mehreren hunderttausend Menschen sein, sondern bloß der Roncalli-Weihnachtszirkus im voll besetzten Tempodrom. Dass es am Eingang bei einem lockeren Blick in Handtaschen blieb und bei der Bitte, kurz mal Mantel oder Jacke zu öffnen, machte die Sache nicht besser. Und wenn nun einer mit einer MP angerannt käme? Es war die Aufführung, die dieses Gefühl beiseiteschiebt, diese Aneinandereihung unaufgeregter wunderbarer Artistik samt den Klängen des Deutschen Symphonie-Orchesters. Der Gedanke an Anschläge kam erst nachher in der S-Bahn wieder – als die Fahrt schon vorbei war.

Der Jahreswechsel war ein Partykiller. Auf der Feier einer Freundin hopsten, groovten, tanzten wir vor Mitternacht, dass der Dielenboden bebte. Es war fast schon egal, welches Lied als nächstes lief, wir machten sowieso weiter. Dann näherte sich zwölf Uhr. Hektische Diskussionen: Gehen wir raus oder reicht nicht auch der Balkon? Die Mehrheit wollte zum Böllern auf die Straße. Als hätten die Raketen all die Energie mit in den Himmel genommen, saßen wir hinterher nur noch auf dem Teppich und quatschten.

Silvester war nur ein dumpfes Dröhnen vorm Fenster. Ich schreckte kurz hoch, drehte mich auf die andere Seite und schlief weiter. An den Weihnachtstagen waren wir durch halb Deutschland gereist und hatten an den verschiedenen Orten so viel gefeiert, dass ich an Silvester nichts lieber wollte als schlafen. Das ist zugegeben kontrazyklisch. Aber auch angenehm: So ausgeruht bin ich noch nie ins neue Jahr gestartet.

Für Nixon lief Silvester mal wieder beschissen. Er wohnt an der Sonnenallee und für schreckhafte Zweijährige ist das am 31. Dezember ein denkbar schlechtes ­Revier. Als die Nachbarn aus dem zweiten Stock das erste Raketen-Set aufrissen, verkroch er sich unter das Bett. Das Abendessen (getrocknete Ente an Bachblütenextrakt) ließ er ausfallen. Kurz vor Mitternacht sprintete er ins Bad, das hat nämlich als einziges Zimmer kein Fenster zur Straße. Übrigens: An Neujahr riss Nixon den ganzen Tag am Kratzbaum herum. Laut Katzenratgeber will er dadurch seinem Herrchen imponieren. Silvester? Angst? War da was?

Macht sich der soziale Strukturwandel durch Gentrifizierung bemerkbar oder werden die alteingesessenen Nordneuköllner einfach immer ärmer – oder gar beides? Jedenfalls war die Knallquantität zwischen Kottbusser Damm und Hobrechtbrücke gefühlt nie so niedrig wie zu diesem Jahreswechsel. Schon um kurz nach eins war fast Schluss mit dem Geballer, das sich sonst gerne mal bis drei Uhr morgens hinzog. Und auch die Straßen sahen am Neujahrsmorgen nicht so aus wie in den Vorjahren: Zwischen Raketen- und Böllerresten war erheblich mehr Bodenfläche zu sehen. Auf der Hobrechtbrücke stand einsam eine leere Sektflasche – nichts im Vergleich zu dem Scherbenmeer, das AnwohnerInnen und TouristInnen im vergangenen Jahr hier hinterlassen hatten.

Die Silvester-Bilanz

Zwei tödliche Unfälle in der U-Bahn überschatten eine der Feuerwehr zufolge ansonsten eher positive Bilanz der Silvesternacht.Unabhängig voneinander, aber fast zeitgleich um vier Uhr am Freitagmorgen wurden nach Polizeiangaben in Bahnhöfen in Hellersdorf und Reinickendorf Menschen überrollt.

Ins Unfallkrankenhaus in Marzahn kamen nach Mitternacht rund 50 Personen, die sich vorwiegend mit Silvesterböllern verletzt hatten. Ein Zwölfjähriger verlor dabei mehrere Finger. Eine Polizistin erlitt eine Brandverletzung, als sie und ihre Kollegen in Schöneberg mit Raketen beschossen wurden. Wiederholt wurden Feuerwehrleute bei ihren über 1.500 Einsätzen mit Böllern beworfen. Nach Angaben der Rettungskräfte gab es dabei allerdings keine Verletzungen. Innensenator Frank Henkel (CDU) kritisierte die Attacken als „erbärmliches Verhalten“.

Bei der Silvesterfeier am Brandenburger Tor, der deutschlandweit größten Party mit mehreren hunderttausend Besuchern, war nach Feuerwehrzählung 127 Mal Hilfeleistung gefragt, 27 Menschen mussten von dort ins Krankenhaus. Einem Polizeisprecher zufolge gab es bei der Feier ansonsten keine besonderen Vorkommnisse. Statt wie im vergangenen Jahr 750 hatten dieses Mal 900 Polizisten die Veranstaltung abgesichert. Gegen 22 Uhr wurden die Zugänge zur Partymeile wegen drohender Überfüllung geschlossen. Die Aufräumarbeiten starteten gleich nach Partyende: Die BSR hatte für den Neujahrstag ange­kündigt, 600 Mitarbeiter und 150 Fahrzeuge einzusetzen. (taz mit dpa)

Ich fuhr mit dem Bus zur Arbeit, dessen verblüffend frisch und gut frisiert aussehende Fahrerin mir freundlich einen guten Morgen und ein frohes neues Jahr wünschte, freute mich, dass die Stadtreinigung in diesem Jahr weniger zu tun hatte, und bemühte mich zu glauben, dass weniger geböllert wurde, weil die Leute heute wirklich lieber spenden.

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