Berliner Szene: Ganz schön fertig
Der Nachbar
Ich habe es mal wieder nicht geschafft, einkaufen zu gehen. Und jetzt habe ich Hunger. Also schnell Treppe runter und zum Asia-Imbiss. Kurz gestöhnt, weil ich ein paar Tage vorher meinen Freund noch gefragt habe, ob unser Sohn wohl irgendwann in der Kita erzählen wird, dass wir so silberne Alu-Schalen als Geschirr zu Hause haben. Aber dann habe ich doch an die Nummer 91 gedacht und bin los.
Im Hausflur geht nur jede zweite Glühbirne. Im zweiten Stock begegnet mir mein Nachbar aus dem dritten. Er guckt mich an und meint zu sehen, dass es mir nicht gut geht.
Na ja, sage ich, ich bin halt müde, das ist wohl so mit Arbeit und Kind, und will gar nicht unbedingt näher darauf eingehen, aber da ist es schon zu spät.
„Oh“, sagt er, „Heulst du jetzt? Ist es so schlimm?“ Nein, nein, versuche ich die Fassung zu wahren, obwohl ich die ungünstige Angewohnheit habe zu weinen, wenn ich gefragt werde, ob ich weinen muss. Noch mehr, wenn mich jemand in den Arm nimmt. Er versucht das, ich wehre es ab und ulke ein bisschen zu viel.
Er meint es gut und will mich wohl warnen, nicht wie er einst in ein Stadium der Überlastung zu rutschen, und haucht: „Ich meine, guck doch mal, wie alt bist du? 39? Und du siehst schon aus wie Mitte 40 … das muss dir doch zu denken geben.“
Das tut es. Ich bin 30 und sage das auch. Ihm verschlägt das nicht die Sprache, er meint es weiter gut und will jetzt mehr als zuvor, dass ich meditiere oder so.
Das Licht geht aus. Ich drücke den roten Knopf. Das Licht geht an. Sonderlich überzeugend sehe ich wohl auch im neuen Licht nicht aus, denn als ich die nächsten Stufen abwärts in Angriff nehmen will, schießt er noch hinterher: „Es kann ja nicht sein, dass du bei deiner Lebenssituation fertiger aussiehst als die Geflüchteten aus Syrien”. Aline Lüllmann
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