Bis zum letzten Mann

Über die Verbrechen der Wehrmacht wurde viel diskutiert – kaum aber über die an den eigenen Soldaten, schon gar nicht über die an den Deserteuren. Manfred Messerschmidt hat nun das Standardwerk über die Wehrmachtsjustiz geschrieben

VON CHRISTIAN STREIT

Die Öffentlichkeit hat in den letzten Jahren viel über die Verbrechen der Wehrmacht erfahren. In welchem Maße diese Verbrechen auch an den eigenen Soldaten begangen wurden, ist indes weithin unbekannt geblieben. Zehntausende Soldaten wurden zu Opfern einer primär politisch motivierten Militärjustiz. Manfred Messerschmidt, der Nestor der deutschen Militärgeschichtsschreibung, hat nun die erste Gesamtdarstellung des Systems der Wehrmachtsjustiz veröffentlicht – die Summe aus 40 Jahren Forschung auf diesem Gebiet.

Die Militärrichter wurden nach dem Krieg ebenso wenig wie die Richter des Volksgerichtshofs und der Sondergerichte für ihr Tun zur Rechenschaft gezogen. Bis in die 90er-Jahre war die Öffentlichkeit bereit, die apologetische These der ehemaligen Wehrmachtsjuristen zu glauben: Sie seien immer bestrebt gewesen, radikale Forderungen Hitlers abzuwehren, rechtsstaatliche Prinzipien zu erhalten und Strafvorschriften zugunsten der Angeklagten auszulegen. Wie verlogen diese These ist, enthüllen die zahllosen Belege, die Messerschmidt aus tausenden von Akten und Kriegsgerichtsurteilen zitiert.

Von allem Anfang an waren die Ziele Hitlers, der Generalität und der führenden Wehrmachtsjuristen in Bezug auf die Wehrmachtsjustiz identisch. Für sie lag die Ursache der Niederlage im Ersten Weltkrieg nicht in politischen und militärischen Fehlentscheidungen, sondern in erster Linie in dem angeblichen „Dolchstoß“ der Linken und im Tun von Deserteuren und „Drückebergern“. Die Militärjustiz habe damals völlig versagt. „Nur eine schnelle und scharfe Justiz“ könne im geplanten Krieg eine Wiederholung verhindern. Es war bloß logisch, dass „Wehrkraftzersetzung“ und „Fahnenflucht“ die Straftatbestände waren, die zu den härtesten Urteilen führten. Messerschmidt zeigt mehrfach, wie die Militärjuristen noch über die Forderungen Hitlers hinausgingen, vor allem mit ständig verschärften Definitionen von „Wehrkraftzersetzung“ und „Fahnenflucht“.

Zumindest für 1943 – die Quellenlage lässt keine allgemeinen Aussagen zu – konstatiert Messerschmidt, dass die Wehrmachtsgerichte noch gnadenloser verfuhren als die Gerichte der SS: Im Fall der Fahnenflucht betrug die Rate der Todesurteile der SS 25 Prozent, bei der Wehrmacht 52 Prozent. Die Haltung führender Militärjuristen zeigt der folgende Fall besonders drastisch: Ein Erlass Hitlers erlaubte es, Fahnenflucht etwa aus „jugendlicher Unüberlegtheit“ nur mit Zuchthaus zu bestrafen: Der Chefrichter der Luftflotte 10 rügte im Dezember 1944, dass Todesurteile unter Hinweis auf diesen Erlass vermieden würden. Es werde dabei verkannt, dass es sich um Richtlinien aus einer Zeit handle, in der noch andere Verhältnisse herrschten.

Messerschmidt zitiert einige Urteile, die zeigen, dass einzelne Richter um Milde bemüht waren. Die Gesamtbilanz lässt jedoch, wie er überzeugend argumentiert, keinen Zweifel daran, dass diese Richter einflusslos waren. Die Zahl der Todesurteile macht dies überdeutlich: Im Ersten Weltkrieg waren im Deutschen Reich 48 Todesurteile vollstreckt worden. Im Zweiten Weltkrieg wurden in England 40, in den USA 146 Soldaten exekutiert, zu mehr als 90 Prozent wegen Mord oder Vergewaltigung. In der Wehrmacht wurden etwa 25.000 Soldaten zum Tode verurteilt, zwischen 18.000 und 22.000 wurden hingerichtet.

Es wäre völlig verfehlt, nur die Todesurteile zu beachten. Nach 1939 entwickelte sich sehr schnell ein komplexes System von hunderten Strafinstitutionen: von Wehrmachtsgefängnissen über bewegliche Heeresgefängnisse an der Front, Feldstrafgefangenenabteilungen (etwa 50.000 Häftlinge), Sonderabteilungen und Feldstraflager (mehrere tausend Häftlinge) bis hin zu den Einheiten der Bewährungstruppe 500 (etwa 27.000 Soldaten) und der Bewährungsbataillone 999 (20.000 bis30.000 Soldaten).

Verurteilte, denen die „Wehrwürdigkeit“ aberkannt wurde – häufig bei politischen Fällen –, schickte man in die „Moorlager“ im Emsland. Die Verurteilten setzte man zu härtesten und gefährlichsten Arbeiten ein, oft ohne Ruhetag bei täglichen Arbeitszeiten bis 15 Stunden; die Angehörigen der Bewährungseinheiten verheizte man in verlustreichen Kämpfen an der Front.

Den Richtern konnte dabei nicht verborgen sein, was ihre Urteile bedeuteten. Berichte von Armeeärzten ließen überaus deutlich erkennen, wie unmenschlich die Gefangenen besonders in den Sonderabteilungen und Feldstraflagern behandelt wurden. Mit gutem Recht spricht Messerschmidt von „konzentrationslagerähnlichen Einrichtungen“. Gerade in dieser Art der Behandlung sahen aber viele Richter ein Mittel, gefährliche Zersetzungserscheinungen zu verhindern. Dem entsprach, dass Soldaten in Strafeinheiten schon wegen einfacher Disziplinardelikte zum Tode verurteilt wurden.

Die Wehrmachtsjustiz funktionierte bis zum Ende perfekt. In den Wochen vor der Kapitulation forderte das Wüten der Standgerichte, das kaum dokumentiert ist, noch einmal zwischen 5.000 und 8.000 Opfer. Selbst nach der Teilkapitulation der Wehrmacht im Westen wurden in der Marine noch Todesurteile gefällt und vollstreckt. Das Wirken der Kriegsrichter bietet im Rückblick eine wesentliche Erklärung dafür, dass sich die Soldaten bis in die letzten Tage in den längst aussichtslos gewordenen Kampf hineinzwingen ließen und dass in den 10 Monaten von Juli 1944 bis Mai 1945 mehr Soldaten starben als in den 58 Monaten vorher – 2.700.000 Soldaten. Jeden Tag wurden also mehr als 8.600 getötet.

Viele der ehemaligen Militärrichter machten nach dem Krieg im Justizwesen Karriere. Die überlebenden Verurteilten blieben vorbestraft, in Versorgungs- und Entschädigungsfragen waren sie weitgehend erfolglos. Erst im Mai 2002 (!) beschloss der Bundestag die generelle Rehabilitierung der Deserteure. Dieser Meinungswandel ist nicht zuletzt auf die Forschungsarbeit von Manfred Messerschmidt zurückzuführen.

Manfred Messerschmidt: „Die Wehrmachtjustiz 1933–1945“. Schöningh Verlag, Paderborn 2005, 528 Seiten, 39,90 Euro