der rote faden
: Realpolitik und andere Übersetzungsfehler

nächste wocheMeike Laaff Foto: Helena Wimmer

durch die woche mit Robert Misik

Es gibt ein paar deutsche Lehnworte, die Eingang in viele Sprachen gefunden haben. Wenn der gebildete Englischsprachler von einer paranoiden, obsessiven Art der Furcht sprechen will, dann sagt er gerne Angst. Die German Angst in im Englischen so bekannt wie Blitzkrieg.

Angst

Ganz beliebt ist, in vielen Sprachen, das Wort Realpolitik. Es wird sehr häufig benützt in diesen Tagen. Kaum kommen in Brüssel ein paar Tech­nokraten oder Sicherheitspolitiker zusammen, knödeln sie schon in ihren jeweiligen Sprachfärbungen von Real­politik.

Es ist eine der seltsamen Eigenarten des Sprachtransfers, dass das Wort Realpolitik von jenen Politikern oder Kommentatoren hochgehalten wird, die von der Realität wenig Ahnung haben. Etwa von jenen, die noch nie einem syrischen Flüchtling begegnet sind, aber sich in ihrer obsessiven „Angst“ sicher sind, dass Europa überfordert ist und keine weiteren Muslime aufnehmen kann. (Die gelten ja in den Kreisen derer, die noch nie einem Flüchtling begegnet sind, als besonders „integrationsunwillig“.) Für diese Leute ist das Festhalten am Asylrecht humanistische Realitätsverweigerung, wohingegen „Grenzen zu, Zäune hoch“ Realpolitik sei.

Valls

Als eine Art Realpolitiker sieht sich wohl auch der rechtssozialdemokratische französische Regierungschef Manuel Valls. Der sorgte diese Woche für zusätzliche Übersetzungsprobleme, lieferte er doch zunächst mit der Aussage Schlagzeilen, dass Europa „keine Flüchtlinge mehr aufnehmen“ könne – nur um anderntags klarstellen zu lassen, er habe „nicht mehr so viele Flüchtlinge“ gemeint. Was er mit „so viele“ meinen kann, ließ er im Dunkeln – Frankreich hat bisher gerade einmal 30.000 Asylbewerber akzeptiert, das ist kaum mehr, als eine Stadt wie Wien recht problemlos betreut. Der tiefere Sinn von all dem: lost in translation.

Die Realpolitiker sind es auch, die glauben, mit ein bisschen Bombardieren in Syrien könne man das Problem des „Islamischen Staats“ in den Griff bekommen (ich weiß schon, man sagt jetzt Daesh, damit sich die Terrorsektierer grämen und vor Gram kapitulieren). Wenn Realpolitiker etwas bombardieren wollen, ist der ulkigste deutsche Realpolitiker nie weit, Josef Joffe von der Zeit. In Syrien, seiner „Terrorhöhle“, seien die Islamisten „zu jagen, zu schlagen“. Das macht warm ums Herz. Und ich hab auch gar nichts dagegen, ich wäre glatt und gern dabei beim Terrorhöhlenausräuchern. Das sie mich da nicht falsch verstehen.

Joffe

Es ist nur lustig, dass sogenannte Realpolitik immer verbunden wird mit kühl abwägender Politik, die den Vorteil hat, „dass sie funktioniert“. Das Problem an den Realpolitikern ist nur, dass sie dauernd etwas als Realpolitik verkaufen, von dem jeder klar denkende Mensch weiß, dass es nicht funktionieren kann. Realpolitiker haben vorgeschlagen, in Afghanistan einzumarschieren und im Irak einen Regimechange durchzuführen und diese Länder zu besetzen – um den Terrorismus zu bekämpfen, aber auch um der muslimischen Welt generell Fortschritt und Demokratie, endlich eine Perspektive zu bringen. Hat prima funk­tio­niert. Boots on the ground? Eine Koalition schmieden, die in Syrien einmarschiert? Es ist sehr unwahrscheinlich, dass das diesmal besser funktionieren würde.

Daesh

Die Konfliktlinien in Syrien verlaufen mittlerweile kreuz und quer. Da gibt es das ­Assad-Regime, dann gibt es ­Daesh (IS), die anderen Dschihadmilizen wie etwa al-Qaida – die heute schon als moderat gilt (wahrscheinlich würden sich die Realpolitiker glatt mit ihr verbünden) –, Kurden und Turkmenen und die verschiedenen Reste der Free Syrian Army. Dazu: Russland, das mit Assad verbunden ist, der schiitische Iran, der in Syrien einen Stellvertreterkrieg mit der sunnitischen Großmacht Saudi-Arabien führt, die Türkei, die ein bisschen gegen den IS ist, aber primär für den IS, weil er einerseits heute die vereinigende Kraft der Sunniten im Irak und in Syrien ist und andererseits weil die Flüchtlinge in der Türkei irgendwann in Nordsyrien angesiedelt werden könnten, was diese Gebiete aus türkischer Sicht ethnisch „entkurdisieren“ würde. Und so weiter. Und dazu als weiterer Vektor im Kräftespiel: viel zu viele Identität suchende junge Muslime im Westen, die Daesh unterstützen, weil das Pop und Punk ist, die Möglichkeit, auf maximal provokante Weise Nein zu sagen. Wer hätte gedacht, dass es noch einmal eine Jugendbewegung geben könnte, die uns schocken würde.

Warum in einem solchen Kräftewirrwarr einfache Lösungen Realpolitik sein sollen? Da kann es sich nur um einen Übersetzungsfehler handeln.