: Eine neue Bewegung ist möglich
Für Attac und andere Kritiker des Neoliberalismus ist das Ergebnis der Bundestagswahl günstig. Um die Situation zu nutzen, müssen sie überzeugende Alternativen formulieren
Fast optimal ist das Wahlergebnis aus Sicht sozialer Bewegungen – von Attac und allen, die gegen den Kurs der letzten Jahre protestiert hatten. Denn die zentrale Botschaft des Wahlergebnisses heißt: Der Souverän insistiert auf sozialer Gerechtigkeit. Marktkapitalismus pur ist mit der Mehrheit der Deutschen nicht zu machen. Das neoliberale Projekt steckt in einer Akzeptanzkrise.
Allerdings gelten für die globalisierungskritische Bewegung unter einer großen Koalition neue Rahmenbedingungen. Seit dem Abflauen der Hartz-Proteste hat es bei Attac einen Dynamikverlust gegeben. Die Mitgliederzahlen stagnieren, in manchen Lokalgruppen werden die Aktiven weniger. Dahinter stehen einerseits natürliche Erscheinungen: Der Reiz des Neuen ist vorbei; nach einer aktionsintensiven Zeit gibt es Ermüdungserscheinungen.
Zum anderen aber sind auch inhaltliche und politische Defizite aufzuarbeiten. Die Strategiediskussion ist unterentwickelt. Mit dem Aufstieg der Linkspartei ist ein neuer Akteur aufgetreten, der Attac zumindest vorübergehend die Schau gestohlen hat. Offenbar ist ein Bewegungszyklus abgeschlossen. Die erfolgreiche Weiterentwicklung außerparlamentarischer Opposition ist kein Selbstläufer.
Allerdings gibt es durchaus Chancen, an die Erfolgsgeschichte der letzten Jahre anzuknüpfen. Die außerparlamentarische Bewegung hat beträchtlich zur Veränderung des Meinungsklimas beigetragen. Der Mythos von der Alternativlosigkeit neoliberaler Politik ist hin. Es gab eine Verbreiterung und Verstetigung von Globalisierungskritik, Protest und sozialer Bewegung entlang von Themen wie Abbau des Sozialstaates oder WTO/Gats, die ein Ausmaß und eine Intensität erreichten wie selten zuvor in der Nachkriegsgeschichte.
Es gibt positive Erfahrungen mit neuen Allianzen, etwa zwischen Gewerkschaften und globalisierungskritischer Bewegung. Mit der neuen Konstellation im Bundestag haben sich die diskursiven Kräfteverhältnisse zugunsten emanzipatorischer Politik verschoben. Positionen und Alternativen der sozialen Bewegungen werden im Parlament wieder artikuliert. Am stärksten sicher von der Linkspartei, die auch Druck auf Grüne und SPD ausübt.
Wie weit diese sich realisiert, hängt in hohem Maße davon ab, wie die große Koalition agieren wird. Sowohl SPD als auch Union stecken in einem strategischen Dilemma. Eine ungebrochene Fortsetzung des neoliberalen Kurses würde für beide weitere Verluste bringen. Die Union konnte in den zurückliegenden Landtagswahlen nur dank des Zulaufs enttäuschter SPD-Wähler aus dem Arbeitermilieu Zuwächse erzielen. Diese Klientel verliert sie wieder durch einen unsozialen Kurs. Da auch die traditionellen Unions-Milieus erodieren, würde sie längerfristig strukturell mehrheitsunfähig.
Die SPD, mit ihren 34 Prozent ohnehin schon stark gebeutelt, würde weiter an die Linkspartei verlieren. Hinzu kommt der Problemdruck bei der Massenarbeitslosigkeit. Hier ist der Erwartungsdruck auf eine große Koalition besonders hoch. All das könnte dazu führen, dass wir es mit „Neoliberalismus light“ zu tun bekommen, eingepackt in sozialer Rhetorik. Für eine Wende zu einer sozial gerechten, ökologisch tragfähigen und außenpolitisch friedfertigen Politik reicht die bisherige Verschiebung der Kräfteverhältnisse dagegen noch nicht.
In einem solchen Szenario würde eine massive außerparlamentarische Mobilisierung eher unwahrscheinlich. Das gilt erst recht, wenn die Gewerkschaften wieder in Loyalität zur regierenden SPD eingebunden werden. Danach sieht es derzeit aus.
Auf der anderen Seite gibt es den Druck der Kapitalinteressen, die eine nicht-neoliberale Antwort auf den globalisierungsbedingten Wettbewerbsdruck und die dramatische Krise der Staatsfinanzen noch immer verhindern können. Solange es keinen starken Widerstand gibt, liefert das Wettbewerbsargument den Vorwand, die Tarifhoheit auf betrieblicher Ebene weiter auszuhöhlen, wie gegenwärtig beispielsweise bei VW.
Mit der staatlichen Finanzkrise werden weitere Privatisierungen, etwa der Renten, und fortgesetzte Einschränkungen der öffentlichen Dienstleistungen legitimiert. Hilfsweise erhält der klinisch tote europäische Stabilitätspakt von den „Wirtschaftsweisen“ und anderen unternehmerfreundlichen Veranstaltungen derzeit eine heftige Mund-zu-Mund-Beatmung.
Vor diesem Hintergrund kommt der Formulierung überzeugender Alternativen eine entscheidende Rolle zu, wenn aus der wahlarithmetisch linken Mehrheit eine reale gesellschaftliche Mehrheit werden soll. Hier liegt die zentrale Herausforderung für soziale Bewegung in den nächsten Jahren.
Die Forderung nach der Tobin-Steuer, auch wenn sie nach wie vor sinnvoll ist, reicht nicht mehr. Strategische Themenfelder sind dabei die Zukunft der Lohnarbeit, insbesondere die Konzepte einer Grundsicherung und von Arbeitszeitverkürzung. Dann das Renten- und Gesundheitssystem sowie die Zukunft der anderen öffentlichen Güter, vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk über Verkehr bis zu Kultur. Dabei sind nur noch solche Konzepte zu gebrauchen, die die internationale Dimension berücksichtigen. Alternativen müssen sich auf EU-Ebene und im Nord-Süd-Kontext bewähren. Hier stehen die sozialen Bewegungen noch am Anfang.
All das wird nur zukunftsfähig, wenn Wirtschafts- und Sozialpolitik mit ökologischer Tragfähigkeit integriert werden. Insbesondere Energie- und Klimapolitik werden nicht mehr von der Spitze der Agenda verschwinden. Deshalb ist sowohl der Schulterschluss mit der Umweltbewegung unabdingbar als auch ein nüchternes Verhältnis, ohne Berührungsängste zu den Grünen. Ihre Politik „Weg vom Öl“, nicht nur ökologisch und ökonomisch zwingend, sondern auch sicherheitspolitisch zukunftsweisend, ist einer der wenigen Aktivposten in ihrer vom Kosovokrieg bis Hartz IV ansonsten düsteren Regierungsbilanz. Das heißt, soziale Bewegung darf sich nicht exklusiv auf die Linkspartei beziehen, sondern muss alle in den Blick nehmen, sofern diese sich emanzipatorischen Positionen (wieder) annähern.
Querschnittsartig durch diese Themenfelder zieht sich schließlich die Demokratiefrage. Die Krise des repräsentativen Systems ist gefährlich, weil sie leicht für nationalistische, rassistische, und andere reaktionäre Strömungen genutzt werden kann. Hinzu kommen die durch die neoliberale Globalisierung bedingte Erosion des parlamentarischen Systems, der demokratisch nicht legitimierte Einfluss der Finanzmärkte und der transnationalen Unternehmen. Daher sind Demokratisierung – und zwar vom Betrieb über die Kommune bis hin zu globalen Institutionen von IWF, Weltbank über die WTO zur G 8 –, die Regulierung der Globalisierung und eine demokratische Konfliktvorbeugung und Konfliktbearbeitung unabdingbar. Gelingt es, auf diesen Feldern substanzielle Beiträge zu liefern, hat Attac seine Zukunft noch vor sich.PETER WAHL