: „Die Liebe zählt mehr“
INTERVIEW MARTIN REICHERT
taz: Sinan und Saithan, ihr habt gerade 5.000 Euro gewonnen, weil ihr Gesicht zeigt gegen Ehrenmorde und Zwangsverheiratungen. Was möchtet ihr mit dem Geld machen?
Sinan: Na, 2.000 bekommt Saithan, 2.000 ich und 1.000 Euro bekommt der Mädchentreff.
Und was macht ihr mit eurem Geld?
Sinan: Ich treffe mich mit Jennifer Lopez! Nein, ich werde mit meiner Freundin jeden Tag essen gehen. Und meinen Führerschein machen möchte ich.
Saithan: Ja, den Führerschein möchte ich auch machen. Mann! Mit dem Gewinn habe ich echt nicht gerechnet. Manchmal bin ich nachts schlafen gegangen und habe gedacht: Was, wenn wir gewonnen haben?
Sinan: Klamotten! Und ein Laptop!
Saithan: Ach nein, ich gebe alles meiner Mutter. Die hat Schulden, und mein Vater hilft ihr da nicht dabei.
Ihr seid auf einer Postkarte mit dem Slogan „Ehre ist für die Freiheit meiner Schwester zu kämpfen“ abgebildet, die an Schulen und öffentlichen Einrichtungen verteilt wird. Wie seid ihr auf die Idee gekommen?
Sinan: Eigentlich hat der Madonna-Mädchentreff ja nur ein paar Models gebraucht, und ich fand das auch okay, meine Meinung anderen zu zeigen. Und die Mädchen haben mich sehr unterstützt, auch meine Freundin natürlich.
Hattet ihr am Anfang Bedenken?
Sinan: Ja, schon. Also Angst nicht unbedingt, weil ich nicht damit gerechnet hätte, dass das so bekannt wird. Aber jetzt?
Wie sind denn die Reaktionen in eurem Umfeld?
Sinan: In meiner alten Klasse wurde der taz-Artikel über uns in der Schule durchgenommen. Da sollte jeder einen Text schreiben. Die meisten Jungen haben gesagt, dass sie ihre Schwester umbringen würden, wenn sie vor der Ehe einen Freund hätte. Und zu mir haben sie gesagt, dass ich ein Zuhälter wäre, weil ich meine eigene Schwester verkaufen würde.
Saithan: Zu mir hat einer aus der zehnten Klasse gesagt: „Du verkaufst ja deine eigene Schwester.“ Natürlich habe ich ihn dann auch beschimpft, und dann gab es eine Prügelei.
Keine positiven Reaktionen?
Sinan: Ich war ja letztens auch im Fernsehen. Da haben mich viele aus der Schule gesehen. Die Mädchen aus der Schule haben mich angesprochen, die fanden das gut, was ich mache.
Finden das nur die Mädchen gut?
Sinan: Ja, und die fragen mich dann, ob ich das wirklich ernst meine. Die können das gar nicht fassen, weil diese Einstellung in Kreuzberg nicht üblich ist.
Ihr wohnt beide in Berlin-Kreuzberg?
Ja.
Und eure Eltern, sind die mit der Postkarte einverstanden?
Sinan: Meine Mutter fand das am Anfang eigentlich okay. Sie war sogar stolz auf mich. Aber mein Vater war verärgert, weil er nichts davon wusste.
Er war sauer?
Er hat Angst um mich, weil andere sich provoziert fühlen könnten. Meiner Mutter werde ich jetzt auch erst mal nichts von dem Preis erzählen, sie hat Angst, dass ich geschlagen werde.
Unterstützen euch eure Freunde?
Saithan: In meiner Clique sind die Gefühle vermischt, manche finden es gut, manche aber auch nicht.
Aber du wirst nicht ausgestoßen?
Saithan: Nein. Die, die das nicht gut finden, haben meistens selbst Schwestern, und die verstehen das falsch. Ich habe ja auch eine Schwester. Wenn die einen Freund hätte, müsste ich eigentlich dagegen sein. Aber ich möchte den erst mal kennen lernen, also, was er für Eigenschaften hat. Ich kann da nicht einfach eine Vorentscheidung treffen.
Und wenn ihr euch in ein Mädchen verlieben würdet, das keine Jungfrau mehr ist?
Sinan: Das wäre schon ganz schön scheiße. Es würde bestimmt auch Streit geben. Aber die Liebe zählt doch mehr! Ich bin ein eifersüchtiger Junge, aber ich würde kämpfen.
Saithan: Wenn ich eine Person liebe, dann zählen doch ihre Eigenschaften und nicht, was sie davor hatte. Für meine Eltern wäre das allerdings schwer vorstellbar. Für mich wäre es ehrlich gesagt auch schwer.
Ihr würdet Probleme deswegen bekommen?
Sinan: Es denkt ja nicht jeder so wie wir, das ist dann gefährlich. Die Ehre ist kaputt, und dann gibt es halt meistens Probleme mit der Familie. Aber in Deutschland sind ja die meisten Mädchen keine Jungfrau mehr, auch die Türkinnen nicht.
In Deutschland war man da früher auch strenger, aber irgendwann haben die jungen Leute einfach gemacht, was sie für richtig gehalten haben.
Sinan: Das ist jetzt genau der Punkt, was wir wollen. Da ist so eine Zerrissenheit irgendwie. Also, die Mädchen zum Beispiel. Da erzählt dann meine Mutter immer ihren Bekannten, ob ein Mädchen gut ist oder nicht: Es wird Wert darauf gelegt, dass ein Mädchen kochen und putzen und gut mit Kindern umgehen kann, sonst taugt sie nichts. Ich weiß ja nicht.
Die Berliner Deutschtürkin Hatun Sürücü wurde umgebracht, weil sie ihr eigenes Leben leben wollte.
Sinan: Ich würde doch meine Schwester nicht umbringen. Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter.
Saithan: Ich würde meiner Schwester auf jeden Fall Rückendeckung geben!