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Archiv-Artikel

Bloß nicht selbstlos wie ein Nazi

VON CHRISTIAN SCHNEIDER

„Homo homini lupus“: der Mensch sei dem Menschen ein Wolf, befand einer der frühesten und der vielleicht radikalste aller bürgerlichen Philosophen, Thomas Hobbes. Aus dieser pessimistischen Anthropologie leitete er unter anderem seinen Entwurf des Staats ab: Um unsere Wolfsnatur unter Kontrolle zu bringen, um Mord und Totschlag zu verhindern, sollen, ja müssen wir unser egoistisches Machtstreben an eine von allen akzeptierte Zentralgewalt abtreten. Dreihundert Jahre später notierte ein großer Aufklärer: „Wir beseitigen in unseren unbewussten Regungen täglich und stündlich alle, die uns im Wege stehen. Die uns beleidigt und geschädigt haben. (…) So sind wir auch selbst, wenn man uns nach unseren unbewussten Wunschregungen beurteilt, wie die Urmenschen eine Rotte von Mördern.“

Dass „der Mensch“ im Kern alles andere als gut sei, ist der Tenor aller Theorien, die sich nicht von romantischen Idealvorstellungen des menschlichen „Sollens“, sondern von genauer Beobachtung und leidenschaftslosem Protokoll des menschlichen Verhaltens leiten lassen. Alle Varianten der Aufklärung setzen darauf, gegen die egoistische und aggressive menschliche Natur eine Art kulturellen Schutzwall zu errichten. Der oben zitierte Sigmund Freud hat es am klarsten formuliert. Es sei „die Hauptaufgabe der Kultur, uns gegen die Natur zu verteidigen“. Gemeint ist damit die innere, die Triebnatur des Menschen.

Natürlich gibt es auch weniger pessimistische Sichtweisen des Menschen. Sie setzen zumeist auf den inneren Gegenpart der arteigenen Aggressionsneigung, auf das humane Vermögen, das alles gutmachen soll: die Liebe. Die so genannte Nächstenliebe, in der die ursprünglichen sexuellen und aggressiven Antriebe sublimiert und in „sozial wertvolle“ Impulse umgewandelt sind, ist die emphatischste Forderung des Christentums, der uns bis heute grundlegend bestimmenden Tradition. Die Bergpredigt enthält das – uneingelöste – Programm einer vom Eros geleiteten Kultur. Die Nächstenliebe ist ein Ideal, um das sich seither die wildesten Spekulationen und Hoffnungen ranken: vom Plädoyer des Skeptikers Nietzsche, sich doch besser in „Fernstenliebe“ zu üben, bis zum friedlichen Schlachtruf „Make love, not war“ der 60er-Jahre-Hippies, die versuchten, die platonische Reinheit des „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ durch Resexualisierung der Beziehungen zu den Anderen aufzumöbeln. Die Idee der Nächstenliebe stellt, entkleidet man sie ihrer religiösen Überhöhung, im Kern nichts anderes dar als das fundamentale Gebot des menschlichen Zusammenlebens: Das Problem, wie wir als Gesellschaftswesen friedlich miteinander auskommen können, ist der Urstoff aller Politik.

Freud hat mit ambivalenter Sympathie darauf hingewiesen, dass das sowjetische Experiment der Versuch sei, die christliche Urforderung auf den harten Boden der politischen Tatsachen zu holen – als Gesellschaftsentwurf mit einem kollektiven Verhaltensimperativ, wohlgemerkt, und nicht als individuelle Haltung. Seine Skepsis gegenüber dem kommunistischen Programm, das in starken Lettern „Solidarität“ – die weltliche Erbin der christlichen Nächstenliebe – auf seine Fahnen geschrieben hatte, hat sich als berechtigt erwiesen. Er – und später noch eindringlicher seine Tochter Anna – hat unseren Blick auch auf das gelenkt, was hinter den bewunderungswürdigen Haltungen steht, die wir heute als soziales Engagement bezeichnen: Immer sei dabei die Logik der Reaktionsbildung am Werk, mit der ursprünglich feindliche Impulse in sozial wertvolle umgearbeitet würden. Anna Freud zählt die altruistischen Regungen zu den Abwehrmechanismen.

Seit einigen Jahren macht in dieser Tradition das Wort vom „Helfersyndrom“ die Runde. „Ich werde geliebt, wenn ich hilfsbereit, verständnisvoll und bedürfnislos bin“ – das ist die Grundbotschaft derjenigen, die ihre Identität darauf bauen, von anderen gebraucht zu werden. Solche Helfer machen andere von sich abhängig und benutzen sie, um sich selbst auszuweichen. Sie brauchen jemand, der schwächer ist als sie, um sich selbst stark und liebenswert zu fühlen. Dafür sind sie bereit, „selbstlos“ alles zu tun. Im Helfersyndrom verbirgt sich das Schreckgespenst der „Selbstlosigkeit“.

Der Historiker (und wütende Antisemit) Heinrich von Treitschke hat an der Schwelle zum 20. Jahrhundert nicht weniger als das Wesen der Deutschen darin erblicken wollen, „selbstlos“ zu sein und zu handeln. Er konnte nicht wissen, wie sehr ihm die weitere Entwicklung Recht geben würde – in scheußlichster Weise. Denn die psychologische Analyse von Hitlers eifrigsten Helfern ergibt genau dieses Bild: Sie hatten ihr Selbst auf dem Altar der „nationalen Aufgabe“, dem „unbedingten Glauben an den Führer“ oder der „rassischen Mission“ aufgeopfert. Der Fanatiker hat kein Selbst – er braucht es nicht. Der engagierte Helfer unterdrückt, der Gutmensch verliert es, indem er es verströmt. All diesen Selbstlosen ist zu misstrauen.

Das, was wir im alltäglichen wie im moralischen Diskurs als „gut“ bezeichnen, hat, im Gegenteil, stets eine unhintergehbare Verbindung zu einer „Politik des Selbst“. Sie ist uns buchstäblich in die Wiege gelegt worden. Denn der Mensch als „physiologische Frühgeburt“ ist, um des Überlebens willen, darauf angewiesen, Helfer zu finden und Helfer zu sein. Ohne sie würde kein Säugling die nahezu totale Hilflosigkeit seines ersten Lebensjahrs überleben. Dieses „extrauterine Frühjahr“, wie es der große Biologe Adolf Portmann genannt hat, ist der ursächliche Grund dafür, dass das Menschengeschlecht ohne wechselseitige Zuwendung und Unterstützung nicht existieren kann: Wir sind aufeinander angewiesen. Aus grob materiellen, „selbstischen“ Gründen. Aus dieser Erbschaft stammt auch die Logik sozialen Engagements. Und die Parole: Trau keinem, der es selbstlos tut.