: Weniger Staat, mehr Bürger?
Es ist etwas faul mit dem Staate Deutschland. Staat und Bürger sind einander entfremdet. Also weniger Staat? Nein. Aber auf jeden Fall: Mehr Bürger! Denn nur eine starke Bürgergesellschaft trägt auch einen starken Staat. Meint PAUL NOLTE
Die Neoliberalen blasen zum Angriff auf den vermeintlich übermächtigen Staat! Doch damit ist längst nicht mehr der polizeilich oder militärisch gesicherte Staat gemeint, sondern der Staat als soziale Sicherheitsagentur, als materieller Leistungserbringer und als Clearingstelle für Solidarität. Die Sorge ist weit verbreitet, dass die gut ausgebaute Sozialstaatlichkeit Deutschlands geopfert werden soll, wenn an die Eigenverantwortung der BürgerInnen, an Gemeinsinn und an soziales Engagement an der Basis appelliert wird.
Ist die Sorge berechtigt? Nein. Denn es ist etwas faul mit dem Staate Deutschland. Staat und Bürger sind einander entfremdet, und genau besehen, haben wir deshalb weder einen starken Staat noch, erst recht, eine starke Bürgergesellschaft. Weniger Staat, mehr Bürger? So gestellt, führt die Frage in die Irre: als ob es um ein Nullsummenspiel der Kräfte ginge; als ob die Bürger automatisch mehr Verantwortung trügen, selbstbewusster und selbstständiger agierten, wenn der Staat verschlankt wäre. Denn es gibt einen mächtigen Gegner, der den Staat ebenso wie die Bürgergesellschaft auszuzehren droht. Das ist der Rückzug der Menschen in eine isolierte Privatheit, der Rückzug in Nischen der bloß noch individuellen Existenzsicherung und Bedürfnisbefriedigung, der Ausstieg aus den öffentlichen Angelegenheiten. Auf diesem Weg sind wir bereits erschreckend weit vorangekommen. Der Staat, gerade der demokratische Sozialstaat, ist dann nur noch wenig mehr als mein ganz persönlicher Provider; eines gesellschaftlichen Verhältnisses im eigentlichen Sinne bedarf der Einzelne gar nicht mehr.
Dagegen sollten wir uns wieder erinnern: Der Staat ist ein Vertrag zwischen seinen BürgerInnen – in materieller ebenso wie in moralischer Hinsicht. Ohne ein bürgerliches Selbstbewusstsein, das man nicht zu voreilig „staatsbürgerlich“ nennen sollte, wird der Staat hypertrophieren und verkümmern zugleich. Der Staat lebt nur von den Ressourcen, die wir ihm zu geben bereit sind – eine wunderbare Geldvermehrungsmaschine ist er nicht. Leider haben wir genau das mehrere Jahrzehnte lang geglaubt. Staatliche Leistungsvermehrung auf Kredit hat Solidarität vorgegaukelt – erst einmal kostete sie ja nichts – und sie den nächsten Generationen entzogen. Und hat uns glauben gemacht, auf das eigene Engagement, auf den eigenen Input zumal in die alltäglichen Nah-Solidaritäten käme es gar nicht mehr an.
Mehr Bürger, mehr Selbstverantwortung, mehr soziales Engagement in den Nahräumen der Gesellschaft: Das kann in dieser Situation so schlecht wohl nicht sein. Mehr Bürger, das heißt zunächst einmal: mehr Kompetenz, das eigene Leben selbstständig zu führen, angefangen bei der gar nicht so leichten Bewältigung des Alltags: Essen kochen, Kinder erziehen, die Arbeit schaffen. Vielleicht brauchen wir sogar mehr staatliche Intervention, um diese elementare Selbstständigkeit wieder flächendeckend, in allen Stadtteilen und sozialen Schichten, durchzusetzen. Mehr Bürger und mehr Selbstverantwortung, das bleibt nicht ohne materielle Konsequenzen: Wer gut verdient, dessen Leben muss nicht auch noch an allen Ecken und Enden vom Staat subventioniert werden. Wenn man sich danach richtet, wird Solidarität nicht gefährdet, sondern erst wiederhergestellt, denn nur dann ist das Geld für die wirklich Bedürftigen da.
Erst aus dieser Selbstständigkeit erwächst die nächste Stufe von bürgerlichem Engagement: Wer sein eigenes Leben meistert, kann auch andere daran teilhaben lassen. Das passiert nicht automatisch; wir müssen erst wieder lernen, dass eine Gesellschaft ohne ein öffentliches Leben ihrer Mitglieder dauerhaft nicht funktionieren kann. Früher stellten die Kirchengemeinde oder die Arbeiterwohlfahrt oder die freiwillige Feuerwehr dafür selbstverständliche Handlungsräume zur Verfügung. Sie lockten in Sozialität hinein, die zugleich Solidarität war. Heute müssen wir neue Räume des Bürgerengagements erfinden und erproben. Anfangen zu handeln, bevor der Staat es tut: Das zielt nicht auf eine Schwächung des Staates, sondern auf die Grundfrage: Wo bin ich selber stark, und was kann ich selber tun, was kann ich selber investieren – an Zeit oder Geld oder sozialmoralischen Ressourcen –, bevor diese Leistung den MitbürgerInnen als Steuerzahlern abverlangt wird? Nur eine starke Bürgergesellschaft wird einen starken und effizienten Staat nachhaltig tragen können.
Fotohinweis: PAUL NOLTE, 42, ist Professor für Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin. Zuletzt erschien sein Buch „Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik“ (C. H. Beck).
Ehrenamtliches Engagement ist der Kitt einer jeden Gesellschaft. Heißt das: Also doch mehr Bürger? Und weniger Staat? Nein. Denn der engagierte Bürger ist nicht der Reparaturbetrieb von eklatanten Fehlleistungen des Staates. Meint BETTINA GAUS
Mal trägt ein junger Mann einer alten Dame die Post nach oben, mal wird einer schwangeren Frau der Spaziergang mit dem Hund abgenommen. Der jeweilige Lohn: Schokolade. Ein Dankeschön. Die Werbekampagne von „Merci“ bringt sowohl Nutzen als auch Grenzen ehrenamtlicher Tätigkeit auf den Punkt.
Grundsätzlich lässt sich über Ehrenämter nicht streiten. Sie sind untrennbar mit jeder Gesellschaft verbunden. Immer und überall haben sich Menschen für das Gemeinwesen eingesetzt: im Rahmen der Armenfürsorge beispielsweise, der Altenpflege, der Mitarbeit in Vereinen, politischen Organisationen und Religionsgemeinschaften. Oder eben der Nachbarschaftshilfe.
Vorteile ziehen daraus alle Beteiligten. Die einen, weil sie Unterstützung erhalten. Die anderen wegen der mit Ehrenämtern verbundenen sozialen Kontakte, wegen der Befriedigung, gebraucht zu werden, oder ganz einfach wegen des angenehmen Gefühls, ein gütiger Mensch zu sein.
Dagegen ist nichts zu sagen. Wäre das Ehrenamt nicht – wie schon der Begriff verrät – mit gesellschaftlicher Aufwertung und einem freundlicheren Selbstbild verbunden, es fänden sich vermutlich nur wenige dazu bereit. Die Gesellschaft würde kälter. Für die Hilfsbedürftigen in der „Merci“-Werbung wäre das Leben ohne die netten Leute von nebenan schwerer zu bewältigen. Aber es ließe sich bewältigen. Andernfalls müssten nicht Nachbarn einspringen. Sondern der Staat.
Dessen Aufgabe ist es nicht, soziale Wärme zu vermitteln. Sondern Sicherheit zu bieten. In einem wohlhabenden Gemeinwesen wie dem deutschen – aber ja doch! – bedeutet das nicht nur den Schutz vor physischen Bedrohungen und existenzieller Not, sondern auch einen Anspruch auf staatliche Leistungen, die garantieren, dass sich die Lebensumstände bestimmter Gruppen nicht zu weit von der gesellschaftlichen Norm entfernen.
Es ist erfreulich, wenn ein Aussiedlerkind das Glück hat, einen fähigen Nachhilfelehrer zu finden, der es ehrenamtlich betreut. Aber das entbindet den Staat nicht von der Pflicht, Förderunterricht für diejenigen anzubieten, die über mangelhafte Deutschkenntnisse verfügen. Schulpflichtige Kinder haben darauf einen Anspruch.
Anspruch ist in diesem Zusammenhang ein zentraler Begriff. Es gibt keinen Anspruch auf Barmherzigkeit – und es gibt umgekehrt auch keinen Anspruch auf Dankbarkeit. Einige Süßigkeiten sind durchaus angebracht, wenn jemand etwas tut, wozu er oder sie nicht verpflichtet ist. Aber warum sollte ein alter Mensch dankbar sein müssen für „Essen auf Rädern“? Oder eine vergewaltigte Frau für einen Notruf? Oder wenig begüterte Jugendliche für ein Freizeitangebot jenseits von Parkplätzen? Sie müssen nicht dankbar sein. Ihr Anspruch auf Berücksichtigung ihrer Interessen ist nicht geringer als der von Eigenheimbesitzern.
Vor kurzatmigen Hoffnungen auf Einsparmöglichkeiten sei gewarnt. Natürlich lassen sich soziale Einrichtungen abschaffen. Aber die möglichen Folgekosten sind hoch. Wenn es keine Schuldnerberatung mehr gibt, wenn immer mehr alte Leute in Heimen untergebracht werden müssen und wenn Langeweile zahlreiche Jugendliche in die Kriminalität treibt, dann kann das ziemlich teuer werden.
Es gilt, zwischen Ehrenamt und staatlichen Aufgaben sorgfältig zu unterscheiden. Die Mutter eines behinderten Kindes wird sich freuen, wenn eine karitative Organisation es ihr ermöglicht, mal ein Wochenende auszuspannen. Aber der Besuch einer integrierten Schule, in der Behinderte und Nichtbehinderte gemeinsam unterrichtet werden, bedarf professioneller Begleitung. Nettsein alleine genügt da nicht.
Je weniger Mittel der Staat zur Verfügung hat, desto intensiver wird versucht, staatliche Aufgaben auf ehrenamtliche Freiwillige abzuwälzen. Auf längere Sicht dürfte das die Bereitschaft verringern, sich überhaupt zu engagieren. Ohne hauptamtlich geleitete Strukturen und ohne Verlässlichkeit des Angebots sinken nämlich die Erfolgsaussichten vieler Projekte. Und wer will schon gerne sinnlos schuften?
Diese Erfahrung haben bereits Helfer in der Dritten Welt machen müssen. Die spendenbereite Öffentlichkeit missbilligt Verwaltungskosten. Um dann immer wieder überrascht festzustellen, dass bezahlte Kräfte und ein festes Organogramm bessere Ergebnisse zeitigen als heroischer Aktionismus. Es ist ironisch, dass ausgerechnet Vertreter einer politischen Richtung, die den verächtlichen Begriff des „Gutmenschen“ in die Debatte eingeführt hat, nun meinen, gute Menschen sollten den Staat entlasten.
Das ist nicht deren Aufgabe. Ehrenamtliche stellen den Kitt einer Gesellschaft dar. Aber sie sind nicht der Reparaturbetrieb staatlicher Fehlplanungen.
Fotohinweis: BETTINA GAUS, 48, ist politische Korrespondentin der taz. Von 1990 bis 96 berichtete sie von Nairobi aus über Ost- und Zentralafrika. Zuletzt erschien ihr Buch „Frontberichte“ (Campus).