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Archiv-Artikel

Wie (a)sozial ist Deutschland?

Ehrenamt ist keine Zuflucht der Einsamen. Gerade wer sozial integriert ist, engagiert sich. Und der Drang zum Freiwilligendienst ist vor allem ein Mittelschichtsphänomen

VON COSIMA SCHMITT

Sie zimmern Nistkästen, säubern Parks oder musizieren gegen die Altenheim-Langeweile: ehrenamtliche Wohltäter. Eigentlich müsste ihre Branche der Personalschwund beuteln. Unentlohnt jobben – das scheint unvereinbar mit einem Zeitgeist, der schon dem Erstsemester strikte Karriereplanung abverlangt. Der Eltern einen Dauerspagat zwischen Job und Kind aufzwingt. Und einen Ehrenvorsitz im Sportbund mit muffiger Vereinsmeierei assoziiert.

Jüngste Untersuchungen aber offenbaren: Der Freiwilligendienst blüht auf. Er wird immer beliebter – gerade bei Ostdeutschen und Rentnern. Das belegt der neueste, noch unveröffentlichte „Freiwilligensurvey“ des Bundesfamilienministeriums. 1999 engagierten sich 34 Prozent der Deutschen unentlohnt. 2004 waren es 36 Prozent.

Ein Vorurteil können die jüngsten Daten entkräften: Die Jugendlichen heute sind keine einig Generation von Egomanen, die lieber für eine neue Playstation jobben als zum allgemeinen Wohl. Im Gegenteil. Die 14- bis 24-Jährigen engagieren sich sogar häufiger als die Restbevölkerung. Dass dennoch viele Organisationen über Nachwuchsschwund klagen, wertet Thomas Rauschenbach vom Deutschen Jugendinstitut als Verteilungsproblem: „Die Kuchenstücke sind kleiner geworden.“ Heute buhlen nicht nur Kirche, Kickerclub und Feuerwehr um die freie Zeit der Teenager. Die Jugendliche können auch Apfelbäume pflanzen oder politische Gefangene unterstützen. Ob sie es tun, ist auch durch den Faktor „Verwurzelung“ bestimmt: Jugendliche, die dort wohnen, wo sie geboren sind, engagieren sich deutlich häufiger. „Sie wachsen in die Strukturen hinein“, sagt Rauschenbach. Je nach Schulform pflegen sie andere Vorlieben: Gymnasiasten gehen gerne in Organisationen, „wo man viel quatschen kann“, so Rauschenbach – zu amnesty international oder in kirchliche Gruppen. Hauptschüler schätzen eher den praktischen Dienst. „Sie wollen Uniform tragen, Auto fahren, Feuer löschen, Menschen helfen“, so der Forscher.

Dass trotz so viel Diensteifer in der öffentlichen Diskussion oft eine „Krise des Ehrenamts“ beklagt wird, hat einen soziologischen Grund: Der Freiwilligendienst durchlebt einen Strukturwandel. Wissenschaftler sprechen vom „Ehrenamt neuen Typs“, das den „alten Typ“ vielfach verdrängt. Ein Freiwilliger traditioneller Art engagiert sich in Vereinen, Parteien, Gewerkschaften oder in der Kirche. Er bekleidet ein Amt, in das andere ihn wählten. Er bleibt seiner Organisation über Jahre, wenn nicht ein Leben lang treu. Anders der Ehrenamtliche neuen Typs. Er beteiligt sich lieber an selbst initiierten Projekten, die häufig zweckgebunden sind: die benachbarte Brache zum Park begrünen. Obstbäume pflanzen auf dem Kinderbauernhof.

„Der Episodencharakter des Ehrenamts nimmt zu“, sagt Rauschenbach. Der Freiwilligendienstler neuen Typs passt sein Tun der Lebensphase an. Als Teenager etwa betreut er den Pfadfinder-Nachwuchs. Nach dem Biologie-Examen hilft er auf der Naturschutzstation – vielleicht ergibt sich ja ein Berufseinstieg. Hat er Kinder, organisiert er Kita-Feste. Er sammelt lieber leere Bierflaschen vom Spielplatz, als abstrakte Ziele wie Demokratie und Bürgerrechte zu verfechten. Der neue Typ des Ehrenamts breitet sich aus, weiß der Survey – bei Frauen stärker als bei Männern.

Vor allem eine Altersgruppe gilt als unerschöpftes Reservoir für unentlohnte Tätigkeiten: die Senioren. „Sie sind die Boomgruppe der Freiwilligendienste“, sagt Birger Hartnuß vom Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement. Denn längst teilen sich „die Senioren“ in zwei Gruppen: die „jungen Alten“ – meist rüstige Rentner, die mehr leisten können als ein wenig Gärtnern oder Plätzchenbacken. Und die Greise, 80 Jahre oder älter, die tatsächlich mehr und mehr von Leiden gezeichnet sind.

Das Bundesfamilienministerium fahndet nun nach Ideen, die Ressource „junge Alte“ intensiver zu nutzen. Das neueste Projekt: eine Art freiwilliges soziales Jahr für jedes Lebensalter. Das Ministerium will das Programm bis 2008 erproben und fördert es mit 10 Millionen Euro. Senioren etwa verpflichten sich, ein paar Monate mit verbindlicher Stundenzahl aktiv zu sein – zum Beispiel als Leihoma, Vogelschützerin oder Suppenausteilerin.

Die Jobsuche erleichtern „Freiwilligenagenturen“, die sich seit etwa fünf Jahren bundesweit verbreiten. Derzeit vermitteln rund 180 dieser Börsen zwischen Interessent und Stelle. Vor allem Frauen nutzen ihre Dienste.

Ein Markt mit Potenzial: Noch sind Frauen weit seltener als Männer ehrenamtlich tätig. Sie investieren auch weniger Zeit in ihr Freiwilligenamt. Laut Hartnuß fehlt ihnen schlicht die Zeit. „Frauen sind viel mehr als Männer mit Kochen und Kinderhüten beschäftigt.“ Der Männerüberhang bei den Ehrenjobs ist auch durch ihre Begeisterung für den Sport begründet, der nach wie vor die Hochburg deutschen Freiwilligenengagements ist. Immerhin aber holen laut jüngstem Survey die Frauen auf.

In der Wahl der Inhalte überdauern tradierte Geschlechterrollen. Frauen zieht es eher in Kirche, Kita und Karitativdienste, Männer eher zur freiwilligen Feuerwehr. Vor allem aber engagieren sich Männer weit häufiger in der Politik. Selbst die weibliche Jugend zeigt sich polit-desinteressierter als der Männernachwuchs. Zudem spiegelt die Freiwilligenarbeit die Ungleichheiten der entlohnten Berufswelt. Der Mann im Freiwilligendienst bevorzugt Leitungsaufgaben. Häufiger als eine Frau bekleidet er Posten mit Prestige. Jeder zehnte ehrenamtlich engagierte Mann erhält eine pauschale Aufwandsentschädigung – aber nur jede zwanzigste Frau.

Ein Klischee immerhin kann die jüngste Studie entkräften: Ehrenamt ist keine Zuflucht der Einsamen und Isolierten. Richtig ist der Umkehrfall. Gerade wer sozial integriert ist, engagiert sich im Freiwilligendienst. So ist der typische Ehrenamtliche kein Single. Häufiger als der Durchschnittsdeutsche lebt er mit Kindern zusammen. Im Viertel fühlt er sich wohlintegriert. Er hat eher Abitur als einen Hauptschulabschluss. Der Gedanke mag einleuchten, dass scharenweise Arbeitslose in Freiwilligenjobs drängen, verheißen die Posten doch Anerkennung und strukturieren den Tag. Statistisch ist das nicht zu belegen. Zwar engagieren sich laut neuestem Survey mehr Erwerbslose als zuvor in Ehrenämtern. Doch nach wie vor hat der gewöhnliche Ehrenamtliche nicht nur einen Job. Er hat auch ein gutes Gehalt auf dem Konto. Wer ohnehin vom Lebensglück bevorteilt ist, schätzt den Zusatzkick Ehrenposten. Der Drang zum Freiwilligendienst – er ist vor allem ein Mittelschichtsphänomen.