: Demokratie braucht den Aufstand
POSTMARXISMUS Der französische Philosoph Étienne Balibar ist ein illusionsloser Utopist und Radikaldemokrat. In seinem aktuellen Buch „Gleichfreiheit“ betrachtet er den Staatsbürger losgelöst von Staat und Nation
■ Der Philosoph: geb. 1942, ist einer der führenden französischen Postmarxisten. Er war Schüler und Mitarbeiter von Louis Althusser und Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs. Balibar ist Kritiker des Universalismus.
■ Das Werk: „Das Kapital lesen“ (1972, mit Louis Althusser), „Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten“ (1990, mit Immanuel Wallerstein, ein Klassiker der Rassismustheorie), „Die Grenzen der Demokratie“ (1993), „Der Schauplatz des Anderen“ (2006).
VON CHRISTOF FORDERER
Étienne Balibar ist vor einigen Tagen aus Kalifornien, wo er als Gastprofessor unterrichtet, zurückgekehrt und sitzt jetzt, über den Dächern von Paris, in seinem von Büchern überquellenden Mansardenrefugium, das er sich, einige Etagen oberhalb seiner Wohnung, in den ehemaligen Chambres de bonne des Gebäudes eingerichtet hat. Der Zufall, denkt man, ist manchmal ein begnadeter Künstler. Hier scheint er bei bei einem realistischen Romanautor des 19. Jahrhunderts in die Schule gegangen zu sein und sich darin zu versuchen, einem Menschen ein architektonisches Umfeld zu verpassen, das, fände man es im Eröffnungskapitel eines Romans beschrieben, sogleich als Versinnbildlichung des Helden entziffert werden würde.
Balibars zwischen zweiter Etage und Dach ausgespannte Wohnsituation ist real existierende Literatur: Die Hintertreppe, über die er von der Küche in die ehemaligen Dienstmädchenzimmer – dorthin, wo einst das „innere Ausland“ des Wohngebäudes lag – aufsteigt, stimmte in einem Erzähltext bildkräftig den Leser schon einmal darauf ein, dass es um einen Philosophen gehen wird, der in zahlreichen seiner Texte für eine erneuerte, den „Teil derer, die ohne Teil sind“ (J. Rancière), einbeziehende Staatsbürgerschaft eintritt.
Den Nationalismus durchlüften
In der jetzt unter dem Titel „Gleichfreiheit“ erschienenen Sammlung politischer Essays ist Staatsbürgerschaft eines der Hauptthemen. „Ein bürgerlicher Begriff“, so Balibar, „das scheint eigentlich nicht das zentrale Problem für einen linken Theoretiker zu sein.“ Aber für Balibar bedeutet Staatsbürgerschaft schon seit Langem weniger ein juristisch-formaler Status als die immer neu durchzusetzende Anerkennung der Befähigung zur politischen Intervention. Dem einstigen Althusser-Mitarbeiter war in den 80er Jahren die gesellschaftliche Relevanz des „Überbau“-Phänomens Staatsbürgerschaft aufgegangen.
Frische Zugluft schien damals in die Staatsbürgerschaftskonzeption hineinzuwehen und den abgestandenen Nationalismus des postkolonialen Frankreich zu durchlüften: „Irrealistischerweise hatte ich geglaubt, dass die Herausforderung durch die Einwanderung und die Ansätze zu einer europäischen Staatsbürgerschaft – nicht konvergierend, aber von zwei Seiten kommend – die Auflösung der Verbindung von Staatsbürgerschaft und Nationalität betreiben würden.“
Das Buch ist nicht leicht zu lesen. Der deutsche Leser, so Balibar, riskiere zudem aufgrund eines kaum lösbaren Übersetzungsproblems auf eine falsche Fährte gedrängt zu werden: „Die deutsche Übersetzung „Staatsbürger“, indem sie die Konnotation ‚Staat‘ einbringt, annulliert geradezu, worum es mir – auf eine vielleicht utopische Weise – geht: die citoyenneté vom Staat abzulösen. Diese nicht mehr vertikal aufzufassen, sondern als horizontale Beziehung zwischen Bürgern neu zu begründen.“
Der Umstand, dass die Übersetzung „Staatsbürgerschaft“ fast so etwas wie ein trojanisches Pferd ist, das die deutsche Sprache in den Text schiebt, verweist auf Balibars „radikaldemokratische“ Auffassung von Demokratie als instabiler Verbindung von „Aufstand“ und institutionalisierter Ordnung. Vor dem Hintergrund dieser Theorie muss der deutsche Term, bei dem der Staat gewissermaßen am Worteingang Wache steht und der potenziell aufständische Bürger so immer schon in Vorbeugehaft genommen ist, wie ein zur Vokabel geronnener permanenter Staatsstreich erscheinen.
Wie viele französische Theoretiker lehnt Balibar essenzialistische Grundlegungen ab. Demokratie fasst er als antinomische Spannung: als den ständigen Konflikt zwischen „Konstituierendem“ und „Konstituiertem“. Da das Konstituierende an der schon etablierten Ordnung noch keinen Teil haben kann, hat es selbst noch keine Legitimität. Aber es ist das, was Demokratien legitimiert. Denn Demokratien sind eben das: Ordnungen, die keine andere Basis beanspruchen können als die Tatsache, dass sie im konfliktuellen Miteinander von Menschen errichtet worden sind.
Die Legitimität von Demokratien liegt so ausschließlich in dem Element, das sie jederzeit wieder entlegitimieren kann. Balibar zitiert Max Weber: Demokratien sind „illegitime Regime“. Nur solange sie ihre illegale Komponente behalten und sich immer neu erfinden, bleiben sie lebendig. (Habermas, so kommentiert Balibar in diesem Kontext, vertrete daher mit seiner aktuellen Forderung nach „demokratischer Legitimation“ der europäischen Institutionen „zwar ein nicht unwichtiges, aber zweitrangiges“ – man könnte sagen: die Frage am falschen Ende anpackendes – Anliegen.)
In dem für den Sammelband titelgebenden Aufsatz „Gleichfreiheit“ interpretiert Balibar auf eine sowohl zu marxistischen wie liberalen Deutungen querstehende Weise die „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ von 1789. In diesem Text, so deutet Balibar, ist der Drang nach Demokratie, der die Menschheitsgeschichte als „Spur“ durchzieht, zum Ereignis im emphatischen Sinn geworden: Die „Erklärung“ habe erstmals die Untrennbarkeit von Freiheit und Gleichheit formuliert und damit ein neues politisches Paradigma durchgesetzt.
Die von Balibar eingeführte Wortverschmelzung égaliberté (Gleichfreiheit) drückt in ihrer spannungsreichen Dichte die Sprengkraft aus, die seiner Meinung nach die Erkenntnis der Untrennbarkeit beider Prinzipien hat. Seitdem Freiheit und Gleichheit als sich gegenseitig bedingend anerkannt worden seien, habe die Gleichheit gewissermaßen die Freiheit befreit.
Von nun an können Rechte nicht mehr auf Privilegien, sondern nur noch auf dem „Recht auf Rechte“ (H. Arendt) – eine Formel, die in sich bodenlos ist und so Balibars negativistische Demokratieauffassung zusammenfasst – gegründet werden. Und da die Anerkennung des universellen „Rechts auf Rechte“ bedeutet, dass es keine Trennung von Mensch und Bürger mehr geben kann, ist seit 1789 jede Form von Ausschluss eigentlich obsolet geworden.
Hier setzt der zweite Teil von Balibars politischer Philosophie an: Die Gleichfreiheit, schreibt er, ist zwar die neue „Wahrheit“, sie ist jedoch „nicht die ganze Wahrheit“. Wohl das wichtigste Thema von Balibars Arbeiten ist die Fragilität dieser neuen Wahrheit und damit des modernen Universalismus: Aus ihr resultiere das immer neue „Paradox einer inegalitären Konstruktion des Egalitarismus“. Der Big Bang der Entdeckung der Gleichfreiheit konfiguriert zwar die bestehenden Makro- und Mikromechanismen der Macht neu, aber beendet sie keineswegs.
Der Eintritt des Universalismus in das Politische kann sogar das Risiko einer neuen Qualität von Gewalt bedeuten: Da nun prinzipiell allen Menschen ein „Recht auf Rechte“ gewährleistet ist, droht, dass jetzt die Ablehnung von Rechten mit der Bestreitung des Menschseins (mit dem Ausschluss aus der Menschheit) begründet wird. Die Bürgerrechtsbewegung in der Endphase der DDR, daran erinnert Balibar, ist ein Beispiel für die letztlich unvermeidbare „Fundierung“ der fragilen Gleichfreiheit durch Diskurse und Institutionen, die Ausschluss praktizieren: „Ich habe viel darüber nachgedacht, welche Spannungen dazu führen, dass man von einer demokratischen Forderung zu einer nationalistischen Forderung übergehen kann; der Wechsel von ‚Wir sind das Volk‘ zu ‚Wir sind ein Volk‘ ist davon eine nahezu perfekte Illustration.“
Balibar ist so etwas wie ein illusionsloser Utopist. Der Mensch, der in der Moderne die Standesperson abgelöst hat, bleibt allzu menschlich. Gleichwohl glaubt er an die Unvertilgbarkeit des „Prinzips Aufstand“. Der historische Zyklus der demokratischen Staatsbürgerschaft scheint ihm auch durch die vom Neoliberalismus ausgelöste aktuelle „Krise der Demokratie“ nicht an sein Ende gekommen zu sein. Die Perspektive zu einer Neukonfiguration von Staatsbürgerschaft – zu so etwas wie „Co-Staatsbürgerschaften“, die Inländer und Ausländer verbinden und realisieren, dass Menschen keine substanzielle Identität haben, sondern „sozialer Rapport“ (K. Marx) sind – ist offen.
Der Glaube an revolutionäre Veränderungsimpulse hat Balibars Wechsel vom marxistischen Engagement zu „liberalen“ Themen überlebt. Aber Balibar begründet Widerstandswillen, so schließt das Gespräch, jetzt „geradezu existentialistisch, also ganz unmarxistisch“: aus einem „Unwesen“ (malêtre), einer produktiven Unhaltbarkeit der Situation des modernen Subjekts. Dieses sitzt zwischen der revolutionären Wahrheit der Gleichfreiheit und der konservativen Wahrheit der Unvermeidbarkeit von Ausschlüssen gewissermaßen zwischen den Stühlen und wird sich so immer wieder neu in Bewegung setzen.
■ Étienne Balibar: „Gleichfreiheit“. Aus dem Französischen von Christine Pries. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 258 Seiten, 24,95 Euro