Konzeptionell wagemutig

FESTIVAL Unter dem Titel „Balagan!!!“ erweitert das „Nordwind“-Festival seine kulturgeografische Perspektive: Neben Produktionen aus den nordischen Ländern wird erstmals bewusst ein Russland-Schwerpunkt gesetzt

„Balagan“ beschreibt ein karnevaleskes Treiben, bei dem Autoritäten infrage gestellt werden

von Katharina Granzin

„Das alles ist weder modern noch postmodern“, sagt David Elliott. „Es ist Balagan.“ Der zwischen den Kontinenten wandelnde Kurator steht im Kühlhaus an der Luckenwalder Straße, einem bisher weniger bekannten Veranstaltungsort. Doch mit der Ausstellung, die Elliott für das „Nordwind“-Festival kuratiert, blickt er seiner Premiere als großer Kunstlocation entgegen. „Balagan!!! Contemporary Art from the Former Soviet Union and Other Mythical Places“ lautet der Titel in schöner Internationalität. Am Freitag ist die Eröffnung.

Mit David Elliott hat sich das „Nordwind“-Festival einen vielseitigen Fachmann ins Boot geholt, der sich seit Jahren mit Kunst aus Osteuropa beschäftigt und jetzt Werke von über 150 Künstlern aus 14 Ländern nach Berlin gebracht hat. Bereits 1999 hatte Elliott für das Moderna Museet Stockholm „After the Wall“ mit Werken aus Osteuropa in den Umbruchsjahren kuratiert. Das ist natürlich ein sehr weites Feld; und es zeugt von einem beträchtlichen konzeptuellen Wagemut der „Nordwind“-Macher, sich so weit nach Osten zu lehnen. „Nordwind“, nun in seiner sechsten Ausgabe, ist schließlich ein Festival für performative und bildende Kunst aus den nordischen Ländern. Durch verschiedene Produk­tio­nen aus dem Baltikum wehte allerdings schon in den vergangenen Jahren immer mal wieder ein entschieden russisches Lüftchen in den Theatersälen.

Dass man sich nun entschieden hat, bewusst auch einen eigenen Schwerpunkt auf Russland und die Staaten des ehemaligen Ostblocks zu setzen, begründen die Festivalmacher mit der eigenen nordischen Perspektive auf den Osten. In Schweden etwa gilt Russland als potenzielle Bedrohung des eigenen Territoriums. Noch virulenter ist dieses Gefühl in Finnland und besonders in den baltischen Ländern, die je eigene Erfahrungen mit russischer Besatzung gemacht haben. Aus diesem Blickwinkel heraus geht es dem „Nordwind“-Festival, wie Ricarda Ciontos schreibt, „nicht darum, das Klischee vom übermächtigen Feind zu bestätigen oder zu widerlegen. Vielmehr soll die Angst vor dem anderen untersucht werden. Die künstlerische Haltung des „balagan“ liefert dazu einen hervorragenden Ausgangspunkt.“

Mit dem Wort „balagan“, einem Begriff, der ursprünglich einen Jahrmarktsplatz bezeichnete, wird im Russischen und vielen anderen Sprachen gemeinhin ein großes Durcheinander beschrieben. Es ist dies aber ein Durcheinander, dem eine große energetische Qualität innewohnt, ein karnevaleskes Treiben, das sich hervorragend dazu eignet, mit den Mitteln des Chaos und der Satire Autoritäten infrage zu stellen. Es gebe eine historische Verwandtschaft zur Commedia dell’Arte, erklärt David Elliott, während wir im Kühlhaus stehen und vier jungen Männern zusehen, die an einer großen Installation werkeln, die sie „District of Civil Resistance“ nennen.

Es ist die Künstlergruppe ZIP aus dem russischen Krasnodar. Mit feinem Grinsen demons­trie­ren sie die beweglichen Teile ihrer Installation, kleine fahrbare Kabinen zum Einsatz bei Demonstrationen gegen die Staatsmacht. Eine Kabine in Lebensgröße werde hoffentlich noch rechtzeitig zum Ausstellungsbeginn fertig, sagen sie. Ein großer Wachturm, von dem aus die Kabinen per Megafon dirigiert werden könnten, steht schon im Hof. Mit ihrer Mischung aus Performance- und Installationskunst bedienen ZIP mehrere Aspekte der Ausstellung gleichzeitig, denn „Bala­gan!!!“ wird eingeleitet von einem umfangreichen Programm künstlerischer Performances, die in der ersten Ausstellungswoche stattfinden. Den Anfang machen ZIP am Freitagabend mit einer Mitmachaktion, die sie „Protest Aero­bics“ nennen: künstlerischer Aktivismus für Menschen mit Bewegungsdrang.

Die Ausstellung wird einen knappen Monat lang zu sehen sein, und man kann sich gut und gern zwei Tage Zeit dafür lassen, denn aufgrund ihres Umfangs findet die Schau an drei unterschiedlichen Standorten statt. Während das Kühlhaus auf seinen vier Stockwerken eher die größere Installations- und Videokunst beherbergt, werden im Liebermannhaus am Pariser Platz vorwiegend Bilder gezeigt – dazu kommt noch das „Momentum“ im Kunstquartier Bethanien. Die „Nordwind“-Theaterproduktionen – die den traditionellen Kern des Festivals ausmachen – werden in der Volksbühne (24.–28. 11.) und in den Sophiensælen (1.–6. 12.) zu sehen sein. Darunter sind sechs Deutschlandpremieren und eine Uraufführung. Zwei Konzerte und diverse Panel-Veranstaltungen, auf denen unter anderem David Elliott noch einmal ausführlicher erklärt, was es mit „balagan“ ganz genau auf sich hat, runden das umfangreiche Programm ab.

Performances, Choreografien und eine Ausstellung

Realitätsnah: Das junge Repertoiretheater Mungo Park aus Kopenhagen inszeniert „Boys don’t cry“ in den Sophiensælen Foto: N. T. Rydvald

Das „Nordwind“-Festival ist auf Entdeckungen aus der nordeuropäischen und baltischen Performance-, Musik- und Kunstszene spezialisiert. Die 6. Ausgabe findet nun vom 14. November bis 23. Dezember unter dem Motto „Balagan!!! – Zones of Resistance“ in Berlin, Hamburg, Dresden statt und präsentiert neue Performances, Choreografien und Installationen von einigen der spannendsten Künstlerkollektiven aus dem Norden und Nordosten. Erstmals wird es zudem ein Programm mit zeitgenössischem Thea­ter aus Russland geben. Darunter Produktionen, die zum ersten Mal außerhalb Russlands zu sehen sind. Dazu gibt es eine Ausstellung mit Künstlern aus 14 Ländern des Exostblocks an drei verschiedenen Orten (Kühlhaus, Stiftung im Max Liebermann Haus und im Kunstquartier Bethanien).

„Nordwind“-Festival, 14. 11. bis 23. 12., Sophiensæle, Volksbühne und Kühlhaus. Programm: nordwind-festival.de