Denn die wissen, was sie tun

Spuren der Jugend (II): Sie sind die Jüngsten, sie sitzen im Bundestag, sie gelten als künftiges Spitzenpersonal ihrer Parteien – aber ist mit ihnen wirklich ein Staat zu machen? Noch drei Treffen, dann werden wir’s wissen

von HENNING KOBER

Alle Politiker sind pünktlich. Auch Florian Toncar von der FDP sitzt schon zur verabredeten Zeit im Borchardt.

Das war übrigens mein Vorschlag. Er war noch nie hier und ist sowieso ziemlich frisch in Berlin. Am Mittag mit dem Zug angekommen aus seinem Wahlkreis Böblingen. Dort in der Region Stuttgart sind die Liberalen traditionell stark. 14 Prozent der Zweitstimmen und Listenplatz 8 haben ihn in den Bundestag gebracht.

Obwohl die Parteilaufbahn von Florian Toncar bei den Jungen Liberalen begann, ist er keiner dieser Spaß-Julis. Der junge Mann trägt einen schwarzen Anzug, dazu eine orangefarbene Krawatte.

Er kann einen guten Wein von der Karte wählen und hat im Sommer sein Studium abgeschlossen. Jura in Regensburg, Heidelberg und Cambridge.

„Das Faszinierende am Recht ist doch, dass es eigentlich nur Sprachauslegung ist.“ Ein Spiel mit den Worten. Er hatte Deutsch-LK in der Schule. Warum Politik? „Es macht mir Freude, Probleme aus allen möglichen Lebensbereichen zu lösen“. Nun ja.

Wir essen Salat und reden so über dies und das, während sich das Borchardt mit dem abendlichen Pläsier-Publikum füllt. Das ist heute ziemlich jung, blond und weiblich.

Helmut Dietl schlurft im Leinenanzug zwischen den Tischen hindurch, irgendwie entrückt. Florian Toncar hat dafür keine Augen.

Der FDP-Nachwuchsmann ist in materieller Sicherheit aufgewachsen, und Schönbuch, sein Heimatort, liegt im Stuttgarter Speckgürtel. Die Mutter ist Ärztin, sein Vater Schulleiter. Er spielt Handball und Tennis, rudert. Als „erste politische Momente“ nennt er Tschernobyl und den Fall der Mauer. Sein Leben scheint geerdet, solide. Er hat eine Freundin, die in Heidelberg studiert.

Erstaunlich, wie einer, dem der Junge noch so ins Gesicht geschrieben steht, tatsächlich so vernünftig sein kann. Die Problemstellungen des Landes lösen, das will er wohl wirklich. Fast etwas zu mathematisch, dafür frei von Zynismus, den ich erwartet hatte.

Bald ist die Musik sehr laut, Frankie Boy singt „New York, New York“, und irgendwann ruft Florian die Fahrbereitschaft an, die alle Abgeordneten in Berlin kostenlos und jederzeit nutzen dürfen. „Toncar, Florian, direkt vor Trittin, Jürgen“.

7.009 Euro verdient ein MdB, zuzüglich der so genannten Kostenpauschale (3.589 Euro), für die Ausgaben im Wahlkreis und das Leben in Berlin. Abzüglich Steuern und Mitgliedsbeiträge an die Partei (SPD ist am teuersten). „Mal sehen, wie ich mit dem Geld hinkomme“, meint Florian.

Dann kommt ein Mercedes, er steigt vorne ein. In zwei Stunden wird er 27. Das merke ich aber erst später, als ich es auf seiner Homepage lese.

Am nächsten Morgen laufe ich durchs Regierungsviertel. Sieht aus wie ein frisch eröffneter Las-Vegas-Park. Vorbei am Ölscheich-Kitsch-Hotel Adolf.

Vor dem Telekom-sanierten Brandenburger Tor ein unglücklich dreinschauender Leistungskurs im Halbkreis um eine Lehrerin mit Rucksack. Neben dem Reichstag findet Wolfgang Gerhardt seinen Wagen nicht.

Verabredet bin ich mit Sabine Bätzing, der Jüngsten von der SPD. „Mensch! Sabine“, war ihr Wahlkampfschlager.

Sie ist 30, verheiratet mit einem Musiklehrer, und seit 2002 direkt gewählt für den Wahlkreis Neuwied-Altenkirchen, das ist im Norden von Rheinland-Pfalz, direkt neben dem von Andrea Nahles. Zwei Frauen in der Tanten-Partei, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Auf ihrer Homepage unter „Meine private Fotogalerie“ zeigt Sabine Bätzing: die Abgeordnete im rosa Bikini am Stand von Holland. Die Arme ausgebreitet, das Gesicht ein Lachen. Wird also super nett oder nett schrecklich.

Wir treffen uns am Nordeingang des Bundestag im Reichstag. Sabine Bätzing trägt schwarzen Hosenanzug und ist für halb neun am Morgen sehr fröhlich. Ein normaler Arbeitstag beginnt um sieben und endet um zehn am Abend. Schüchtern ist sie auch nicht. Als in einer Tür auf einmal Oskar Lafontaine steht, geht sie zügig voraus. Eigentlich ist sie gar nicht die Jüngste, das sagt sie jetzt noch mal: Der Erfurter Carsten Schneider ist ein halbes Jahr jünger, aber der ist schon zum dritten Mal im Bundestag und wird dieser Tage als Staatssekretär im Finanzministerium gehandelt.

Wir sitzen dann an einem Frühstückstisch. „Das war ein Schock“, erinnert sich Bätzing an den Tag, als Schröder die Neuwahlen ankündigte. Sie war gerade in Kairo, kümmerte sich um Kinder, die auf Müllkippen leben. „Vorher hatte es immer geheißen, wir ziehen das bis 2006 durch, egal was kommt.“ Aus Ägypten durch die Nacht telefonierend muss entschieden werden: Wen nimmst du in dein Wahlkampfteam? Lässt sich das bei der Bank zurückgelegte Geld mobilisieren? Wo wirst du auf der Liste stehen?

Und: „Natürlich war da auch die Frage: Was, wenn wir verlieren?“

Sabine Bätzing kommt „aus einer ganz konservativ katholischen Familie“. 1994 tritt sie in die SPD ein. „Nein, Rudolf Scharping war nicht der Grund. Das AKW Mülheim-Kärlich ist bei uns direkt vor der Tür.“

Grüne gab es im Ort nicht. Auf Familienfesten mischt sie sich in die Politdiskussionen der Männer und wird belächelt. Es dauert eine Weile, bis sie ihren Cousins klar macht, „dass Blut dicker ist als Wasser“ und sie gefälligst für sie statt für die CDU zu stimmen hätten. Auch die Partei lächelte, da war sie die Vorzeigejugendliche: „Das Mädchen“, erinnert sie sich. „Das nervte.“ Aber sie war klug genug, sich dagegen nicht bockig zu wehren. „Unterschätzt zu werden ist manchmal ganz angenehm.“

Als Direktgewählte ist sie jetzt die erste Lobbyistin ihrer Heimat.

Das heißt: Bürgermeister, die Ortsumgehungen wollen, und Leute, die ihrer Miete nicht mehr bezahlen können. Alle wollen ihre Hilfe. Es hilft nur eins: „freundlich bleiben“.

Wenn Sabine Bätzing nicht wiedergewählt worden wäre, hätte sie sich wohl zwischen „Familie oder Studium“ entschieden. Aber Mutter sein, „wenn ich jeden Abend in der Woche Termine habe? Wir schieben die Frage noch.“ Dann sprechen wir noch über vieles. Auch über die Zukunft der SPD.

„Momentan ist wohl Platzeck vorn.“ Auch Sabine Bätzing könnte mal vorne stehen, irgendwann. Fröhlichkeit ist nämlich nicht die schlechteste Voraussetzungen für Politik.

Tage später dann Anna Lührmann, Homepage-Motto „Grün und frisch“. Sie war die Jüngste, die Allerjüngste, auf allen Kanälen. Jetzt 22 Jahre jung, zum zweiten Mal aus Hessen in den Bundestag gewählt.

Irgendwie glaubt man sie zu kennen, auch wenn sich kein richtiges Bild zusammenpuzzelt. Für frühe Sünden entschuldigt sie sich gleich. „Am Anfang war ich zu angepasst. Meine erste Bundestagssitzung im grauen Hosenanzug und rotem Rolli, ein Albtraum.“

Wir sitzen in der Akademie der Künste am Pariser Platz, im Restaurant von Sarah Wiener, das ist so eine ZDF-Fernsehköchin, und essen Brot mit Aufstrich. Anna sagt so oft „geil“, wie ich „super“ sage.

So angeschaukelt höre ich mir auch nochmals die Legende vom Atomausstieg an und erfahre, dass die grünen Realos jetzt Reformer heißen. Dort werde aber „nicht so megalosgelöst von den Realitäten diskutiert“.

Stattdessen die Frage: Wie wollen und wie können wir leben? Die Politikstudentin sagt auch so Sachen wie: „Der klassische Links-rechts-Kampf ist Käse.“ Und: „Nicht jeder, der Staatsverschuldung schlecht findet, ist ein Neoliberaler.“ Wie ist es denn eigentlich nach Rot-Grün? Sind die harten Linken schon längst die überzeugteren Konservativen? Anna meint: „Klar kann man von der gerechten Weltregierung träumen. Aber man kann jetzt auch einfach mal sagen, wie wir leben wollen.“

So ist sie, lösungsorientiert, schnell, zuverlässig, ein Gedächtnis wie Helmut Kohl. Scusi!, das war jetzt gemein. „Ich treff so viel spannende Menschen, das ist Hammer“, sagt sie. Kann es eine bessere Motivation geben?

Dinge erledigen, etwas schaffen, das hat sie wohl aus den USA. Seit einem Austauschjahr in New York „fast so was wie meine zweite Heimat“. Sie kennt das Leben dort, die hübschen, klugen Menschen, die nicht alle überfettet im Hummer um die Ecke fahren. An die deutschen Antiamerikanisten: „Dieses pauschale USA-Bashing nervt total. Das ist stumpfes Unverständnis und Unkenntnis einer anderen Kultur.“ Wenn sich mal wieder irgendwelche Parteifreunde oder Wähler über die „amerikanischen Ökoschweine“ aufregen, lässt sie die auflaufen. Sollen die doch erst mal bei sich anfangen.

Plötzlich rotiert die Sicherheit. Eine mechanische Stimme, laut: „Achtung, Achtung, aufgrund einer technischen Störung …“ – ein Feuer? Horden uniformierter Männer im schwarzen Anzug strömen die Treppen herunter. Wir bleiben sitzen, und bald ist klar: ein Grill unter dem Brandmelder. Anna also? Sie ist frisch, aber ein Profi in dem, was sie tut.

Fünf Tage nach dem ersten Treffen begegne ich noch einmal Cornelia Hirsch. Wieder im Café Chagall. Sie sitzt am gleichen Tisch. Zuvor, in einer E-Mail, entschuldigt sie sich dafür, sich auf das Gespräch nicht wirklich eingelassen zu haben. Die Gründe dafür sind so turbulent, dass sie hier nicht wiederzugeben sind. Jetzt lächelt sie im Schein der Tischkerze.

Wir reden noch einmal über ihre Motivation. Später, beim Autorisieren der Zitate, legt sie Wert darauf, dass „ich nicht Politik mache, um Menschen zu treffen. Die Herausforderung ist, die Gesellschaft sozial zu verändern.“ Und wie? „Es fehlt ja nicht nur an den Hochschulen das Geld. Auch im Sozial- und Kulturbereich sind zu wenig Mittel.“ Sie meint: „lieber richtig Geld investieren“. Der Zauber soll durch eine andere Steuerpolitik geschehen.

Ganz hochgetaktet redet sie heute. Mir wird ein bisschen schwindelig, was nicht unbedingt an Frau Hirsch liegen muss. So neblig höre ich noch, dass sie sich fest vorgenommen habe, keine „Politikersprache zu sprechen. Auch nicht in vier Jahren.“

Unsere Wege trennen sich jetzt schnell, und ein paar Meter später, auf der Friedrichsbrücke, geht eine nicht sauber verdaute Ente süß-sauer ihren Weg in die Spree. Aus dem Himmel strahlt ein Außerirdischen-Landelicht, und ich denke: Warum ist nur alles immer so ganz schrecklich oder so ganz herrlich oder auch beides zugleich? Nur mit Politik hat es so wenig zu tun wie Friedrich Merz mit wilder Jugend.