: „Die Parteien verkommen zu Sultanaten“
Heiner Geißler, einst erfolgreicher CDU-Generalsekretär unter Kohl, meint: „Wenn Müntefering mutig ist, sollte er Andrea Nahles nehmen“
taz: Herr Geißler, Sie waren zwölf Jahre lang Generalsekretär der CDU: anerkannt, gefürchtet, verhasst. Sehen Sie heute in den Parteien einen Generalsekretär, der Sie an sich selbst erinnert?
Heiner Geißler: Nein, das ist ohnehin unmöglich.
Woran liegt das?
An mir. Jeder Mensch ist einmalig.
Wie würden Sie die Aufgaben des Generalsekretärs einer Volkspartei beschreiben? Muss er mehr General oder mehr Sekretär sein?
Bleiben wir mal bei der CDU, dort hat der Generalsekretär qua Statut die meisten Vollmachten. Er ist der eigentliche Stellvertreter des oder der Parteivorsitzenden, er führt die Geschäfte der Partei, er hat die Personalhoheit über die Bundesgeschäftsstelle, er leitet die Wahlkämpfe, er muss die Partei programmatisch auf der Höhe der Zeit halten. Das ist ein hoher Anspruch.
Wem muss die Loyalität eines Generalsekretärs zuerst gelten: der Partei oder dem Parteichef?
Er ist der Generalsekretär der Partei und nicht der Regierung – zumal wenn der oder die Vorsitzende zugleich Kanzler ist und in dieser Eigenschaft die Koalition zu vertreten hat. Dann besteht die Gefahr, dass die Partei nicht mehr erkennbar wird. Der Generalsekretär muss selbstständig sein und die Programmatik seiner Partei zur Not auch gegen die eigene Regierung verteidigen. Loyalität zum Parteivorsitzenden – ja. Gehorsam – nein.
Aber genau wegen dieses spannungsgeladenen Verhältnisses sind Sie letzten Endes an Helmut Kohl gescheitert.
Es war sein Recht, mich nach zwölf Jahren nicht mehr vorzuschlagen – aber wahrscheinlich auch ein Fehler. Als die Arbeitsteilung zwischen Kohl und mir noch stimmte, hatten wir Wahlergebnisse zwischen 45 und 50 Prozent.
Warum funktioniert das heute nicht mehr? Scheitert das an mächtigen Parteichefs, die in einer aufgeregten Mediengesellschaft nur noch eines wollen: Ruhe in ihrem Laden?
Ja, Müntefering ist dafür ein klassisches Beispiel. Er will einen Gefolgsmann als Generalsekretär. Er glaubt, als Vizekanzler könne er keine Irritationen aus der eigenen Partei gebrauchen. Aber diese Spannung muss er aushalten.
Die Öffentlichkeit honoriert keinen Streit in den Parteien, heißt es.
Das liegt auch an den konservativen Medien. Sie sind regierungs- und autoritätshörig geworden. Diejenigen in den Parteien, die Streit machen, werden als „Abweichler“ hingestellt. Die Parteien drohen zu geistigen Sultanaten zu verkommen.
Das Wesen Ihres Gewerbes haben Sie so beschrieben: Wer Profil erwerben will, muss mit dem Gegner Streit in einer wichtigen Sache anfangen. Wenn das nicht geht, muss er Streit mit den eigenen Parteifreunden in einer wichtigen Sache anfangen. Also lieber ein kleines Gemetzel als gar keinen Krieg?
Natürlich braucht der Streit einen Anlass. Aber Politik ist eben auch keine Harmonieveranstaltung. Es geht um den richtigen Weg, um die Austragung von Konflikten. Der Generalsekretär einer Regierungspartei muss den Streit möglicherweise auch gegen die eigene Fraktion und Regierung führen. Er darf nie zulassen, dass die Programmatik der Partei absinkt auf das Niveau einer Koalitionsvereinbarung. Der Generalsekretär muss der geistige Führer der Partei sein. Nehmen Sie die CDU: Nach 1989 ist die Partei vom Vorzimmer des Kanzleramts aus geleitet worden. Damit begann ihr Abstieg, ein paar Jahre später flog sie aus der Regierung.
Muss ein Generalsekretär Sabine-Christiansen-tauglich sein?
Selbstverständlich, ein Politiker muss sich intelligent im Fernsehen bewegen können.
Sie haben häufig Aristoteles zitiert: „Nicht die Taten sind es, die Menschen bewegen, sondern die Worte über die Taten.“
Das ist nur die halbe Wahrheit, aber dennoch richtig. Revolutionen werden heutzutage ja nicht mehr dadurch gemacht, dass man Bahnhöfe besetzt, sondern Begriffe.
Welchen Begriff müsste die SPD heute besetzen?
Was die SPD diesbezüglich in den letzten Jahren geboten hat, war eine sprachlich-intellektuelle Katastrophe. Agenda 2010, Ich-AG, Job-Agent, Hartz IV – das ist die SPD als Sprachmonster, die ihre Seele verkauft. Ein früherer Slogan der CDU hieß: Freiheit statt Sozialismus. Das war eine kühne Parole, aber sie war berechtigt. Wenn sich die SPD an ihre Grundwerte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hält, müsste sie heute plakatieren: Solidarität statt Kapitalismus.
Einen Rat für Müntefering: Sollte er Andrea Nahles zur SPD-Generalsekretärin machen, eine junge, kämpferische Frau, die für ihn nicht berechenbar ist?
Wenn Müntefering mutig ist, wenn er nicht Friede, Freude, Eierkuchen will, wenn er die SPD intellektuell gegen Lafontaine und Gysi aufstellen möchte – dann sollte er sich für Andrea Nahles entscheiden. Sie würde mehr sein als nur ein Handlanger der Regierung. INTERVIEW: JENS KÖNIG