Kein Schnickschnack mit Tocotronic am Selbstmord-Samstag
: Für all die zarten Punks

Ausgehen und Rumstehen

von Diviam Hoffmann

Der Columbiadamm ist lang. Mit dem Fahrrad kann man gefühlte 15 Minuten an dem hässlichen Nazibau des Flughafengebäudes in Tempelhof entlangfahren. Seinerzeit eins der längsten Gebäude der Welt, heute Heimat von Modemessen und Rockfestivals, dazu eine Handvoll Büros – der Großteil der 50.000 Quadratmeter aber steht meist leer.

Direkt gegenüber geben Tocotronic am Samstagabend das zweite ihrer beiden Berlin-Konzerte – eine Zusatzshow, nachdem das erste rasant ausverkauft war. Der „Prolog“ des aktuellen „Roten Albums“ eröffnet den Reigen von Dirk von Lowtzow, Arne Zank, Jan Müller und Rick McPhail. Ihr Album brachte im Mai Revolution und Liebe auf höchst tocotronische Art zusammen: erste Liebe, Rebellion, Emanzipation von Begehren, Eltern und Provinz.

Die vier Musiker kommen sichtlich glücklich über die große Aufmerksamkeit (3.000 Zuschauer) auf die Bühne, aber auch etwas geschafft. Von Low­tzow wirkt zu Beginn doch tatsächlich nervös, erzählt etwas von Alkohol, aber auch von der Freude, ein zweites Mal auf derselben Bühne stehen zu können. Die Columbiahalle muss man erst mal füllen, das schaffen Tocotroinic auch am zweiten Abend: „Es ist wie nach Hause kommen“, meint von Lowtzow. Dass sich einige Menschen im Publikum das Spektakel tatsächlich ein zweites Mal anschauen, ist nicht unwahrscheinlich. Ihre Setlist hat die Band vorsichtshalber leicht abgewandelt – die Songauswahl womöglich der schwerste Job für eine Band, die es schon über zwei Dekaden gibt. Ich kenne kaum Menschen, die zu Tocotronic nicht irgendwie eine Verbindung haben, egal ob sie 20 oder 40 Jahre alt sind. Ein Freund erinnert sich an den magischen Beginn der Gruppe, als ihr Albumtitel „Digital Ist Besser“ 1995 etwas ganz anderes bedeutete als heute.

„22 Jahre Tocotronic – 22 Jahre kein Schnickschnack“, brüllt von Lowtzow ins Publikum und kündigt so an, was der rote Faden sein wird. Musik vom „Roten Album“, folgerichtig in rotes Licht getaucht, dazwischen, oft angesagt mit der Jahreszahl der Erscheinung, die Angelpunkte des Schaffens der Band – es gibt eine Art Werkschau zu hören. Von Lowtzow, Sänger und Gitarrist, der Anfang der 90er Freiburg Richtung Hamburg verließ, weiß, dass jeder Mensch im Publikum sein Lieblingslied gehört haben will. Schon vor Beginn am Eingang hieße es, „ich hoffe, sie spielen ein paar ältere Sachen“, in den Reihen der Wartenden. Dem gerecht zu werden, gelingt der Band: „Aber hier leben, nein danke“, wird auch vom Publikum skandiert, „Let There Be Rock“ weht hymnenhaft über das euphorische Publikum. „Samstag ist Selbstmord“ passt zum Setting und zu den Gedanken an den Absacker in einer Neuköllner Bar.

Am zweiten Tocotronic-Berlin-Abend gibt es „Kapitulation“ als Zugabe. Und den Song „Zucker“ vom aktuellen Album, an anderer Stelle vom Sänger und Gitarristen mit den Worten „der schwulste Song vom schwulsten Album“ – anspielend auf eine Rezension in der Welt – angekündigt, wird nun allen „zarten Punks“ gewidmet.

Als die farbintensive Lichtshow endet, ist alles für einige Sekunden monochrom im Saal – der Moment, an dem von Lowtzow seine Gitarre weglegt, um abermals in der Zeit zu reisen, wie er sagt, und die durchweg großartige Instrumentierung im Song „Du bist immer für mich da“ ganz seinen Bandkollegen zu überlassen: Arne Zank, der kraftvoll das Schlagzeug bedient, McPhail, dessen Fingern man kaum auf seinen Saiten folgen kann, und Bassist Müller, der auch nach zwei Stunden Show noch aussieht wie frisch aus dem Ei gepellt.

Und der Nazibau gegenüber? Dort stellt die Bundeswehr in einem Hangar derweil Betten auf, die auf die ersten Geflüchteten warten. Bis zu tausend Menschen sollen dort ab dieser Woche untergebracht werden. „Nur wenn wir alle unsere Herzen und unsere Grenzen öffnen, können wir Liebe empfangen“, kündigt von Lowtzow den Song „Ich öffne mich“ an – und singt: „Ich öffne mich / öffne die Grenzen für dich.“