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Achtundvierzigmal Leben

BÜHNE In „100 Sekunden (wofür leben)“ widmet sich Jungregisseur Christopher Rüping am Deutschen Theater verschiedensten Biografien und der großen Frage nach dem Sinn des Daseins

von René Hamann

Ein Korsett, das langsam gelöst wird. Ein strenges Regularium, das sich langsam entspannt. 100 Sekunden pro Leben, 100 Sekunden Zeit, um auf den Punkt zu kommen. 48 Biografien sollten dargestellt werden, 48-mal Sinn, 48-mal Leben zum Tode hin, das war ungefähr das Konzept, das hinter „100 Sekunden (wofür leben)“ stand. Ein Stück, das um die ganz großen Fragen kreist, das gleichzeitig historisch und gegenwartsbezogen ist, das vom Leben wie vom Tod handelt, von der Frage nach dem Sinn. Das von historischen und ideologischen Hintergründen erzählt und von individuellen Schicksalen, und doch auch recht einfach bleibt in seiner Tendenz.

Am Sonntagabend feierte es Uraufführung in den Kammerspielen des Deutschen Theaters. Es war dann ein in Teilen gelungener Abend. Das Konzept war einfach: vier Schauspieler, die der Reihe nach je ein Leben referierten, während unerbittlich die Zeit heruntergezählt wurde. Natürlich waren es aber nicht irgendwelche Leben, die erzählt wurden – es waren Leben aus der Geschichte, von der Jungfrau von Orléans über Magda Göbbels bis zu Mohamed Bouazizi und einem Selbstmord­attentäter.

Thanatos-Prinzip

Der Regisseur, Christopher Rüping, ist gerade einmal 30 Jahre und gilt als aufstrebendes Talent, wenn nicht schon als künftiger Starregisseur. Auch im DT wurde er an diesem Abend besonders bejubelt. Für die Aufführung hat er die gesamten Kammerspiele genutzt – alle Ebenen, die sich boten. Das Publikum saß fast durchgehend auf festgeschraubten Sitzen der Hinterbühne. Die vier Schauspielenden nutzten sämtliche Zugänge und skandierten später auch von den Rängen in der Bühnentechnik aus, bevor sie nach Lüften des Vorhangs das Geschehen auf die Zu­schauertribüne verlegten. Viel Licht und viele Requisiten brauchte es nicht: Papierschnipsel, ein paar Kostüme, Feuerzeuge, ein Klavier, das war es im Wesentlichen.

Auch blieb das Spiel fast durchgehend bei den Schauspielern selbst – sie schlüpften in keine Rolle, sie trugen Biografien vor. Sie erzählten. Erst Michael Goldberg probierte eine Parodie, als er einen russischen Raketentechniker darstellte, mit passendem Akzent und Habitus, der mit einer Verzögerungstaktik den dritten Weltkrieg verhinderte, damals in den achtziger Jahren – und später mit einer Zahlung von 1.000 Dollar dafür belohnt wurde.

Nach und nach spielte sich das Ensemble aber von den Vorgaben frei – so sah es zumindest aus. Keine Diktate aus dem Lautsprecher mehr; die Zeiteinteilungen erledigten sie jetzt selbst. Mit dem Umzug auf die Zuschauertribüne fiel auch das weg.

Auch die erzählten Leben wurden gewöhnlicher: Jetzt wurde nicht mehr vom Krieg, von den Opfern einer großen Idee erzählt, sondern auch von kleineren Lebensvorstellungen: vom Busenstar, der sich den Traum von 70 F erfüllen will und bei der letzten OP stirbt, von der Alzheimer-Patientin, vom Bergsteiger.

Das Leben also, das eines zum Tode hin ist. Das Thanatos-Prinzip. Lange fiel es schwer, den Geschichten zu folgen – zu viel Text in zu knappen Zeiträumen; zu wenig Interaktion der Schauspieler. Auch blieben die erzählten Biografien in ihrer Drastik überraschungsarm: Die Nachrichten sind schon seit Längerem voll von solchen Geschichten. Die Leistung bestand am ehesten darin, einen geschichtlichen Raum zu öffnen: Vielleicht ist auch diese Zeit nur eine, von der in 500 Jahren in pathetischen Filmen erzählt wird.

Auch hätte man damit rechnen können, dass alles todtraurig wird – oder gezwungen lebensbejahend. Aber traurig war es irgendwie nicht.

Auch der Versuch in Optimismus, von Camill Jammal am Klavier mit passenden Songs (die ganze Idee in der Umsetzung qualitativ leider weit von Christoph Marthaler entfernt) eingeleitet, wurde durch den gemeinen Tod immer wieder unterbunden. Ja, der Tod. Schrecklich.

Zuletzt konnte Rüping beim Theatertreffen überzeugen mit der Dramatisierung des Vinterberg-Films „Das Fest“. Eine dankbare Vorlage, eine starke, drastische Geschichte. Mit „100 Sekunden (wofür leben)“ gelingt es Rüping, die Mittel der Inszenierung auszuschöpfen – das Essenzielle des Stücks selbst verschwindet aber gern in Redundanz, vielleicht sogar in Gleichgültigkeit.

Denn leider stimmt es: Sterben müssen wir alle. Viele suchen sich einen Grund dafür. Viele nicht.

„100 Sekunden (wofür leben)“. Kammerspiele im Deutschen ­Theater, wieder am 22. 10., 24. 10., 04. 11., jeweils um 20 Uhr

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