: Selbst richtender Amokläufer
THEATER Robert Teufel bringt Kleists „Kohlhaas“ im Stadtheater Bremerhaven auf die Bühne – als zeitlose Figur mit neuzeitlichem Furor
Gerade ist schon wieder was passiert. Ein Mann stach eine Politikerin im Wahlkampf nieder. Er glaubte, sie habe Deutschland verraten. Ein gewiss fragwürdiges Wertesystem – aber ein Wertesystem. Während besorgte Bürger in Deutschland Galgen für Politiker bauen. Werte sind auch hier im Spiel, keine Frage.
An beides und mehr könnte man denken, wenn man sich Robert Teufels „Kohlhaas“ anschaut, mit dem das Stadttheater Bremerhaven seine Spielzeit im Schauspiel eröffnete. Kohlhaas: ein Amokläufer? Ein Lynch-Mörder? Die Explosivität des Gerechtigkeitsfanatikers bekommt in Teufels optisch aufs Äußerste reduzierten Inszenierung ein Gesicht, nämlich das des nervös die Worte zerkauenden Harald Horvaths. Der gleich am Anfang mit einem schockierenden Schrei von hinten aus dem Saal auf die Bühne stürmt. Dann wird es aber erst einmal didaktisch. Wie das so ist in einer Gemeinschaft. In der viele Individuen, ein jedes für sich einzigartig, in der Gemeinschaft die Dinge ganz vernünftig regeln. Apropos Regeln: Die Verabredung Theater. Die braucht natürlich auch Regeln. Wie die Gesellschaft als Ganzes.
Diesen Regeln unterwirft nun Kohlhaas sich zwar gern. Aber eben nur, solange es zu seinem Vorteil ist. Mit Nepotismus konfrontiert, wird er zum selbst richtender Amokläufer, der als Fundamentalist der Gerechtigkeit am Ende sein eigenes Wohlergehen völlig aus den Augen verliert im schwarzen Dunkel von Friederike Meisels Bühne.
Horvath zerplatzt schier vor Wut, was leider nicht selten zulasten des Textes geht, der immer wieder durch eingestreute heutige Alltagssprache aufgebrochen wird. Kohlhaas ist in Teufels Inszenierung nicht nur ein Exempel aus lang vergangener Zeit, sondern auch ein moderner Bürger in Wut. Eher kalt bleiben seine Mitspieler Sascha Maria Icks und Christian Neuhof, die das restliche Personal abbilden, stets von Kohlhaas auf Distanz gehalten, selbst wenn es um die eigene Ehefrau gibt, die ihm nur einmal nahe kommt – und auch dann lediglich taktisch motiviert. Dieser Kontrast lässt Horvaths Wüten umso beklemmender hervortreten. Das mag kein großer Theaterabend sein, eher ein spaltender, der in seinen eineinhalb pausenlosen Stunden gleichwohl einiges an Fragen aufwirft. Was in Zeiten wie diesen nicht wenig ist.
Andreas Schnell
Nächste Vorstellungen: 23. 10., 30. 10, 5. 11., jeweils 19.30 Uhr, Stadttheater Bremerhaven, Kleines Haus
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