Starker Beigeschmack von Wahrheit

BACKSTAGE MASTERPIECE Mit „Kronos. Geheimes Tagebuch“ wird eine bisher unbekannte Seite des polnischen Schriftstellers Witold Gombrowicz und seines Lebens im Exil und in vollkommener Exterritorialität sichtbar

„Ihr tut nur so, als wärt ihr, wie ihr seid“, schreib Witold Gombrowicz seinen Landsleuten aus dem Exil Foto: Bohdan Paczowski

von Stephan Wackwitz

Es gibt zwei Arten von Tagebüchern: solche, die schon während der Entstehung eine mögliche Veröffentlichung im Blick gehabt haben, und andere, die zur Selbstverständigung geschrieben wurden, ohne den Gedanken an künftige Leser. Die sind oft interessanter: eine Art innerer Abenteuerspielplatz, wo Gedanken, Gefühle, Ängste, Illusionen und Hypochondrien sich im Licht der Selbstkommunikation dann oft genug so schnell zersetzen, dass man, wenn man derlei nach Jahren wieder liest, die Person, die das seinerzeit geschrieben hat, gar nicht mehr wiedererkennen mag. Im Beschreiben des eigenen Lebens lässt es der Schreiber solcher Tagebücher in Wirklichkeit hinter sich.

Der polnische ­Schriftsteller Witold Gombrowicz, den ­Milan Kundera in eine Reihe mit Broch, Proust, Musil und Kafka gestellt hat, ist berühmt geworden mit einem Tagebuch des ersten Typs. Es erschien seit 1953 bis zu Gombrowicz’ Tod 1969 in der polnischen Exilzeitschrift Kultura. Gombrowicz war nach dem deutschen Einmarsch in Polen von einer Argentinienreise nicht zurückgekehrt und lebte fortan im neutralen Buenos Aires, in den frühen sechziger Jahren dann kurzzeitig in Berlin, später in Paris und zum Schluss, als schon international berühmter Schriftsteller, in den französischen Seealpen.

Die Kultura war im sozialistischen Polen zwar verboten, aber immer präsent. Sie kam, eingeschlagen in unverdächtige Buchdeckel, auf Schleichwegen über die Grenze, wurde in dunklen Hauseingängen oder unter dem Ladentisch der staatlichen Buchhandlungen verkauft und in Wohnküchen und Lesezirkeln Monat für Monat diskutiert.

In seinem Kultura-Tagebuch wandte sich Gombrowicz von einem internationalen, moder­nistischen, avantgardistischen und radikal individualistischen Standpunkt an die vom Kommunismus Eingeschlossenen. Er verweigerte seinen Landsleuten das süße Rauschgift, von dem die meisten ehemaligen sowjetischen Kolonien den Entzug bis heute nicht geschafft haben: jenen warmen Stallgeruch na­tio­naler Selbstvergewisserung in einer provinziellen Populär­version der eigenen Kultur. Stattdessen zerstörte er in seinem Tagebuch – ebenso wie in seinen Romanen und Theaterstücken – systematisch die angestammten kulturellen Sicherheiten und wagte sich in wenig begangene innere Bezirke vor. „Meine Bücher sollen euch nicht sagen: seid, wer ihr seid. Vielmehr sagen sie: ihr tut nur so, als wärt ihr, wie ihr seid. Ich wünschte mir, daß ihr das, was ihr lang für unfruchtbar und sogar peinlich an euch gefunden habt, produktiv macht.“

Polnische Verunsicherung

Es ist ein eindrucksvolles Zeugnis für die Souveränität seiner klandestinen polnischen Leser, dass sie sich von den Verunsicherungsexerzitien dieses exzentrischen adligen Emigranten durch all die schlimmen Jahrzehnte zwar provozieren ließen und sich oft genug über ihn aufgeregt haben werden, dass aber Gombrowicz in Polen trotzdem immer als Klassiker verehrt wurde und heute vollends unumstritten ist. Vermutlich wurden die Grundlagen für den Erfolg der neuen polnischen Republik neben vielem anderen auch damit gelegt, dass die Polen in den finsteren Zeiten von 1953 bis 1969 ein literarisches Gespräch mit diesem freien Geist gepflegt haben.

Vorletztes Jahr wurde bekannt, dass Gombrowicz neben seinem kolumnenartigen Selbstgespräch in der Kultura auch ein Tagebuch des zweiten Typs, eines nur für sich selbst geführt hat. Es wurde von seiner Witwe Rita 2013 im Krakauer Verlag Wydawnictwo Literackie herausgegeben und ist jetzt in einer schön bebilderten und instruktiv kommentierten deutschen Version (die sehr lesbare und natürlich klingende deutsche Übersetzung ist von Olaf Kühl) bei Hanser greifbar. Gombrowicz begann diese Aufzeichnungen als eine autobiografische Chronik der laufenden Ereignisse seit seiner Kindheit, die er dann in die Gegenwart weitergeführt hat. Aus dem autohistoriografischen Ursprung des Unternehmens stammt eine Einteilung in Monate, die summarisch aus dem Rückblick bilanziert werden. „Kronos“, wie Gombro­wicz seine Notizen an einer Stelle nennt, ist daher eher ein Monats- als ein Tagebuch. Seine Aufzeichnungen sind noch nah an den Ereignissen, aber schon weit genug von ihnen entfernt, um ein Urteil über sie fällen zu können.

Wie oft in solchen Notizen steht das Langweilige neben dem Sensationellen. Der größte Aufreger bei der Erstveröffentlichung in Polen war das tatsächlich erstaunliche und vor allem erstaunlich nüchtern notierte promiske bisexuelle Liebesleben Gombrowicz’, der bis zu seinem sechzigsten Lebensjahr (als er die achtundzwanzigjährigen Rita Labrosse kennenlernte und schließlich heiratete), sexuell so ziemlich alles mitnahm, was sich anbot. A bissl wos ging immer: Nutten, Matrosen, Verkäuferinnen, Studentinnen, Studenten, boys and girls. In Berlin gibt es einen „Günther 1“, einen „Günther 2“ und dann noch einen „Kanaren“, mit dem es aber „langweilig“ ist.

Außerdem fallen durch Intensität die Hypochondrien des bei Beginn der Aufzeichnungen noch nicht fünfzigjährigen Mannes ins Auge (die sich mit zunehmendem Alter in wirkliche Krankheiten verwandeln). Eine Art Perpetuum mobile zwischen promisker Manie und hypochondrischer Depression scheint am Werk gewesen zu sein.

Auffällig oft ist „Langeweile“ verzeichnet. Umzüge von einer möblierten Unterkunft in die nächste werden geschildert, Büroquerelen (Gombrowicz hatte jahrelang eine prekäre und irgendwie demütigende Sinekure in der Banca Polaca inne, wo es ihm erlaubt war, während der Bürostunden zu schreiben), Geldsorgen, penibel notierte gesellschaftliche und literarische Zurücksetzungen, künstlerische Selbstzweifel, Begegnungen mit der polnischen emigracja und der argentinischen Bildungsbourgeoisie. Er fand die hochnäsige und prätentiöse argentinische Avantgarde dumm, sie fanden ihn irgendwie peinlich. Vermutlich hatten beide Recht.

Gombrowicz hat die Marginalität als Ressource der Souveränität benutzt

Konkurrenz mit Borges

Argentinien hatte seinen sagenumwobenen Status als siebt­reichstes Land der Welt in den vierziger Jahren schon verloren. Der Strudel aus halbkrimineller Politik und stagnierender Wirtschaft, der das Land später zeitweilig verschlingen sollte, kündigte sich an. Kulturell lebte das in Wirklichkeit immer provinzielle Land in einer imaginären und nicht zu gewinnenden Konkurrenz zu Paris. In seinem Roman „Trans-Atlantik“ hat Gombrowicz Jorge Louis Borges als einen pompous fart mit Sprachfehler porträtiert, Silvia Ocampo als eine eingebildete Damentorte. Borges seinerseits mokierte sich über ­Gombrowicz’ grauenvolles Spanisch. All das hat, wie man auch als glühender Gombrowicz- und Borges-Fan zugeben muss, einen starken Beigeschmack von Wahrheit.

Der bleibende Eindruck nach der Lektüre dieses faszinierend zu lesenden backstage masterpiece ist der eines Lebens in brunnentiefer Einsamkeit und Marginalität, über der sich ein trotziger und angesichts der offensichtlichen Machtverhältnisse auch ein bisschen absurder Hochmut erhebt. Erst ganz langsam stellt sich der Ruhm ein, der (übrigens wie bei Borges selbst und bei Beckett) dann gleich international war und dem Gombrowicz bis zum Schluss nicht ganz getraut hat. Und in der genau nachgezeichneten Einsamkeit, Dissidenz und Pariastellung des Exilanten ist im privaten Tagebuch zugleich der Quellcode für die brillante Rücksichtslosigkeit der sozusagen offiziellen und dann bald weltberühmten Kultura-Kolumne offengelegt.

Gombrowicz hat in seinem Schreiben und Leben die Marginalität als Ressource der Souveränität benutzt. Sein intimes Journal offenbart die Gedanken, Gefühle, Ängste, Illusionen und Hypochondrien, von deren Energie das veröffentlichte Tagebuch zehrte. Dessen intellektuelle Erkundungen und Urteile sind gefällt aus einer Position vollkommener Exterritorialität, in einer sexuellen, intellektuellen, sozialen und kulturhistorischen Dezentrierung, die auf den Seiten von „Kronos“ in fast unerträglicher Klarheit zu besichtigen ist. Diese Position hatte er sich im Handstreich erobert, als er 1939 aus einer undeutlichen Eingebung heraus seine zwei Koffer wieder an sich nahm und die Gangway des schon fast ablegenden Dampfers herunterstolperte, auf dem er eigentlich in die Heimat reisen wollte.

Man wird das offizielle Tagebuch von Gombrowicz ab jetzt und für immer vor dem Hintergrund dieser privaten autobiografischen Notizen lesen.

Witold Gombrowicz: „Kronos. Geheimes Tagebuch“. Aus d. Pol­ni­schen Olaf Kühl. Hanser, München 2015, 360 S., 27,90 Euro