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Im Entscheidungsnotstand

POLITIK UND ETHIK Hasko Weber inszeniert am Deutschen Theater „Terror“ nach einer fiktiven Story von Ferdinand von Schirach. Das Publikum entscheidet als Schöffe über den Fall eines abgeschossenen Passagierflugzeugs

Lars Koch (Timo Weisschnur) schoss den Airbus A320 ab. Staatsanwältin Nelson (Franziska Machens) befragt ihn Foto: Arno Declair

von Tom Mustroph

Eigentlich ist die Frage geklärt. Im Februar 2006 verkündete das Bundesverfassungsgericht, dass die Bundesregierung nicht ermächtigt ist, den Abschuss eines Passagierflugzeugs anzuordnen, selbst wenn damit der Tod von wesentlich mehr Menschen als in der Maschine sind, verhindert würde. Begründung: Die Passagiere, die ja Opfer und nicht Tatbeteiligte sind, seien durch eine solche Entscheidung zu Objekten des staatlichen Handelns gemacht und verlören ihre Würde. Damit sollte alles klar sein.

Da man aber mittlerweile weiß, dass sich Regierungsmitglieder gern über Recht und Gesetz hinwegsetzen – über das Recht auf informationelle Selbstbestimmung etwa im Falle von Vorratsdatenspeicherung und Suchwort-Kooperation von BND und NSA –, ist das Gedankenspiel, das Ferdinand von Schirach derzeit im Deutschen Theater auf die Bühne bringt, durchaus relevant.

Der konstruierte Fall ist schnell erzählt: Am 26. Mai 2013 schoss der Bundeswehrpilot Lars Koch in der Nähe Münchens einen Airbus A320 der Lufthansa ab, weil der sich in der Hand eines Entführers befand, der ankündigte, die Maschine über der mit circa 70.000 Menschen vollbesetzten Allianz Arena zum Absturz zu bringen. Der Pilot drückte ab, übrigens gegen den Befehl des Verteidigungsministers, und findet sich nun auf dem Theater wegen des Todes der insgesamt 164 Insassen in einem Gerichtsprozess wieder.

Das Publikum erfährt, dass es bei diesem Prozess als Schöffe fungieren soll. Es erlebt Theater in seiner Urform, als öffentliches Gericht. Leider vertraut Regisseur Hasko Weber der thea­tralen Kraft dieser Konstellation nicht ausschließlich und lässt noch allerlei Ballerapplikationen aus dem Cockpit als Bewegttapete auf eine heruntergelassene Betonwand werfen.

Man guckt sich diese überflüssige Illustration aber weg, weil die Argumente von Staatsanwaltschaft (Franziska Machens, so forsch, wie es das TV-Genre Ermittlungsfilm vorschreibt) und Verteidigung (Aylin Esener) sowie die Einlassungen der Richterin (Almut Zilcher, so eitel auf Wirkung bedacht, wie es das Genre Richterserie vorgibt) und des Angeklagten (Timo Weisschnur als verantwortungsbewusster Musterbürger) hoch interessant sind.

Da geht es um die so pragmatische wie zynische Denkweise des „kleineren Übels“; eingebracht in den rechtsphilophischen Diskurs 1951 vom Juraprofessor Hans Welzel, der zu NS-Zeiten übrigens das „gesunde Volksempfinden“ pries: Danach wäre ein Bahnbeamter freizusprechen, der einen auf einen Bahnhof zurasenden Güterwaggon auf ein Nebengleis umleitet und dabei fünf dort tätige Gleisarbeiter tötet, die größere Menschenmenge am Bahnhof aber rettet.

„Terror“ zwingt dazu, über das vermeintlich „erlaubte“ Töten nachzudenken

Zum „Fat Man“-Szenario erweitert hat dieses ethische Problem die US-amerikanische Moralphilosophin Judith Jarvis Thompson: Danach kann der Waggon nur erfolgreich gestoppt werden, wenn der Retter einen neben ihm stehenden Mann von der Brücke wirft. Dieser Tötung aus unmittelbarer Nähe könnten, so Autor Schirach, selbst als Anwalt mit juristischen Problemen bestens vertraut, weniger Personen zustimmen als der Ferntötung, die lediglich durch einen Hebel im Stellwerk oder eine Taste im Cockpit eines Flugzeugs erfolgt.

Tja, da sitzt der zum Schöffen ernannte Theaterbesucher nun und versucht, sich aus dem fatalen Entscheidungsnotstand zu befreien. Warum eigentlich sieht von Schirachs Szenario nicht vor, dass die Allianz Arena rechtzeitig geräumt wird? Wie kann, siehe Andreas Lubitz, heutzutage überhaupt jemand ins Cockpit eindringen? Lässt sich – eingedenk der Verschwörungstheorien vom­­11. September – mittlerweile nicht doch von außen die Steuerung von Flugzeugen übernehmen? Schließlich landet man bei der klassischen Unvereinbarkeit der Logik militärischen Handelns mit dem Geist des Grundgesetzes. Militärisch handelte Koch – trotz Befehlsverweigerung! – richtig. Er schützte viele Menschen und städtische Infrastruktur. Er verletzte aber das Grundgesetz, gemäß dem Menschen eben nicht zu Objekten degradiert und in den Tod geschickt werden können. Wendet man die Logik des Grundgesetzes auf militärisches Handeln an, landet man früher oder später bei Kurt Tucholsky: Soldaten sind Mörder! Und das eben nicht nur, wenn sie Lufthansa-Maschinen kurz vor München abschießen.

„Terror“ zwingt dazu, grundsätzlich über das vermeintlich „erlaubte“ Töten nachzudenken. Da ist dann auch unerheblich, dass die durch „Hammelsprung“ praktizierte TED-Umfrage des Premierenpublikums – man musste durch Türen mit den Aufschriften „schuldig“ oder „unschuldig“ gehen – mit 255 zu 207 den Freispruch des Piloten ergab.

Deutsches Theater, wieder am 6., 16. und 22.Oktober

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