Trauerarbeit in der S-Bahn
: „Und ick nur: Stummel is weg“

Abends, auf dem Rückweg in die Stadt, betritt in Eichwalde ein schmächtiger Mann die S-Bahn. Der Alkohol steht ihm rotgrau im bärtigen Gesicht, seine Basecap ist speckig, die Brille zu groß. Er setzt sich uns gegenüber und legt los. „Stummel is weg!“, ruft er, und obwohl wir ihn noch nie zuvor gesehen haben, wissen wir gleich: Das geht jetzt so weiter.

Während er mit bedächtigen Bewegungen eine Flasche Aldi-Bier und einen Flachmann aus seiner Umhängetasche zieht, hört der Bärtige keinen Augenblick auf zu deklamieren, den Blick ins Unendliche gerichtet: „Ick sach noch: Mach den Motor aus, aber nee. Greift rin mit der bloßen Hand und will die Wicklung ausm Häcksler … und dann jehtet janz schnell. Kommt der Chef, sacht, wat is hier los? Und ick nur: Stummel is weg!“ Die Kinder rücken näher an die Eltern und stellen flüsternd die unvermeidlichen Fragen.

Unser Gegenüber spricht laut und für einen Betrunkenen eigentlich zu akzentuiert. Es klingt fast wie ein Bühnenmonolog. „Icke denn uffm Fünnunfuzzja quer über die LPG, hin zu olle Loppse und sache: Stummel is weg. Stummel is durchn Häcksler. So kleene Stücke, so kleene.“ Er deutet einem imaginären Gesprächspartner mit Daumen und Zeigefinger die Länge eines Streichholzes an. „Also ick meene, als Traktorist kannste doch nich, als Agrotechniker … det musste doch wissen, det de nich bei Standgas und mit der bloßen Hand, also!“ In einer kurzen Sprechpause öffnet er mit den Zähnen routiniert seine Bierflasche. Die Kinder können den Blick nicht abwenden.

Spätestens bis Baumschulenweg ist klar, dass es sich beim Vortrag des Bärtigen um eine Endlosschleife handelt. Dem tragischen Vorfall, den er da schildert und der ihm wohl seit vielen Jahren nicht mehr aus dem Kopf gehen will, nähert er sich immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven. Und alle münden in diesen fassungslosen Ruf „Stummel is weg!“ Den Kindern werden seine Schilderungen langsam doch zu explizit: „Hinten uffm Hänger isser, sach ick. So kleene Stücke. Det Blut hat jespritzt, ick hab jekotzt. Det hab ick nich verarbeetet, det kann keena verarbeeten!“

An der Köllnischen Heide verlassen wir die S-Bahn. Der Bärtige schaut uns nicht nach, obwohl wir in seinem Teil des Waggons die einzigen Zuhörer waren. Er spricht immer weiter, beide Flaschen in den Händen. Getrunken hat er noch keinen einzigen Schluck. Auf dem weiteren Heimweg finden die Kinder die Sprache wieder und verarbeiten ihr Erlebnis nach Kinderart: „Stummel is weg!“, kreischen sie in die Nacht, „Stummel is weg!“

CLAUDIUS PRÖSSER