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Archiv-Artikel

Sprayerwände oder Gehörlosenhilfen?

80 BürgerInnen machen sich auf den Lichtenberger Weg. Zur ersten von fünf Stadtteilversammlungen, in denen die Richtung künftiger Bezirkspolitik festgezurrt wird. Hier zeigt sich wieder einmal, wie schwierig und anregend Basisdemokratie sein kann

Auch einfach mal Frust durchs Mikrofon lassen, das gehört zu dieser Geburt

VON MARTIN KAUL

Hier in der Oberschule am Rathaus schlägt gleich die Geburtsstunde einer neuen Politik. Hier sitzen später insgesamt 120 Personen, darunter etwa 80 interessierte BürgerInnen. Heute mit eigenem Stimmrecht.

Es ist ein langer Weg in die Aula. Von den Wänden des langen Flurs platzt der mattgrüne Lack, aus den Deckenläufen baumeln unverputzt die Enden von Stromkabeln. Vorbei an zerkratzten Türen, begleitet von der Tristesse, mit der sprödes Gestrüpp aus schmucklosen Plastiktöpfen lugt. Ihre Erde so trocken wie die matte Schulluft dieses Flurs. „Gefallen Ihnen die Beamtenpalmen? Billig und robust“, lacht eine Frau, die vorbeieilt.

Beamtenpalmen also. Die Frau betritt die Aula am Ende des Flurs. Dort starren einige der dutzenden Beamten, für die diese Veranstaltung Überstunden bedeutet, auf den noch leeren Stuhlkreis. Ein Mann von der Volkshochschule lehnt sich an einen Stapel Broschüren. Die Beine übereinander geschlagen. Irgendwie wirkt er gelangweilt.

Es ist die erste von fünf Stadtteilversammlungen, in denen die Richtung zukünftiger Bezirkspolitik nun in Bürgerhänden liegt. „Wer immer kommt, es sind die richtigen Leute.“ So prangt es auf einem der fünf überdimensionalen Zettel, die an der Wand hängen und Offenheit demonstrieren sollen.

„Dieses Pilotprojekt ist absolut einmalig“, sagt Ann-Kathrin Kühr, „weil wir in dieser Runde nie wieder zusammen sein werden!“ Sie ist weder Pastorin noch Psychologin. Sie ist die Moderatorin der heute frisch geborenen Basisdemokratie. „Vielleicht fragen Sie sich“, sagt sie weiter, „wie Sie hier hereingeraten sind.“ Sie wird unterbrochen. Bodo Rosahl klatscht demonstrativ laut. Er lehnt sich zurück, verschränkt die Arme vor der Brust. Seine Stirn faltig, sein graues Haar zurückgekämmt. „Alles unkonkret, zu viel Gerede“, sagt der 67-Jährige in sächsischem Akzent. Er wird an diesem Abend noch häufig seine Bedenken formulieren. Der Mann von der Volkshochschule bewegt sich kaum.

Ron Rodriguez schiebt ab und an den Schirm seiner roten Basecap nach hinten. Der 14-jährige Riese trägt einen Dreitage-Oberlippenbart. An seinem Hals baumelt ein Jesus-Kreuz an einer silbernen Kette. Bestimmt küsst er es beim Fußball nach einem guten Schuss. Das Transparent, das er mit Kai Burkowski, einem Kumpel aus dem Jugendclub „Plexus“, vor der Veranstaltung hochgehalten hatte, ist nun eingerollt. „Mehr Computer“ steht in kleinen Lettern darauf und „Basketballplätze für Sozialraum 19“. Ron und Kai – sie gehören zu den Kids aus dem Jugendclub.

Neben Ron sitzt ein glatzköpfiger Mann im Trainingsanzug und malt Luftblasen auf seinen Block. Ann-Kathrin Kühr redet noch immer, hebt ihre Stimme, ehe sie anhebt, als sei nicht alles längst losgegangen: „Auf los geht’s los, und los ist jetzt!“

Das erste Wort hat eine Frau ohne Stimme. Ihr Gebärdensprachdolmetscher bricht das Schweigen des „Open Space“, der offenen Runde ohne Vorgaben, in der sämtliche Ideen vorgestellt, Foren eröffnet, Themen benannt und aufgeschrieben werden sollen. Die amtliche Diskriminierung der Gehörlosen müsse beendet werden, Mittel für Gebärdensprachdolmetscher auf den Ämtern gehörten her. Der erste Vorschlag steht.

Winfred Bolz, der „allein schon Ideen für 20 Millionen Euro“ hätte, geht zum Mikrofon. Straßenbauarbeiten besser koordinieren, verbesserte Jugendarbeit und Sprayerwände für Jugendliche schlägt der dreifache Familienvater vor. Ron Rodriguez nickt. Bodo Rosahl schüttelt verständnislos den Kopf. Er hatte als Einziger gegen Bolz gestimmt, als der und die 59-jährige Christa Pietzsch zu den Vertrauensleuten der Versammlung gewählt wurden. Sie sollen die gesammelten Vorschläge aufbereiten und im Bezirksamt helfen, wenn es um die Vorbereitungen zur großen Endabstimmung im Januar geht.

Stimme um Stimme mehren sich die Ideen. Ron Rodriguez verweist auf die kaputten Computer im Jugendclub. Rosahl will nicht so viel Gerede. Und überhaupt: Auch einfach mal Frust durchs Mikrofon lassen, das gehört zu dieser Geburt. Der Mann mit Glatze malt Fragezeichen auf seinen Block. Beim fünften Beitrag sind es fünf Fragezeichen. Der Mann von der Volkshochschule spielt mit seinem Stift. Vielleicht wird ihm bewusst, dass auch sein Arbeitsplatz ein Teil des so genannten Produktpreises ist. Jenes Preises, der beschreibt, was eine Leistung des Bezirksamts kostet.

Die Räume der Volkshochschule, die Unterrichtsmaterialien und auch sein Gehalt – all das sind Kostenfaktoren für eine Unterrichtseinheit. Sie ist das „Produkt“ der Volkshochschule und kostet den Bezirk 51,73 Euro. 2006 darf sie nur noch 48,14 Euro kosten. Jugendsozialarbeit ist billiger: 38,12 Euro die Stunde. Eine Unterrichtseinheit der Musikschule soll dann nur 24,97 Euro kosten. Eigentlich müsste sich der Mann von der Volkshochschule bewegen. Denn wer weiß schon, ob die BürgerInnen Jugendsozialarbeit oder die Musikschule wichtiger finden könnten als den Unterricht an der Volkshochschule? Doch der Mann von der Volkshochschule regt sich kaum. Der Mann mit Glatze malt jetzt Ausrufezeichen.

Und in den einzelnen Foren wird diskutiert: „Also, Herr Bolz, Ihre Sprayerwand, die ist doch Quatsch!“, schüttelt Bodo Rosahl im kleinen Kreis den Kopf. „Früher haben wir Fahrräder repariert, heute lassen sich die Kids eben anders aus“, sagt Winfred Bolz. „Warum kann man es nicht wie früher machen?“, fordert Rosahl. Ron Rodriguez merkt leise an: „Wenn sie nur sprayen dürften, dann würden viele Jugendliche das Schmieren lassen.“ – „Die würden doch trotzdem immer drüber schmieren.“ – „Nicht, wenn sie genug Platz bekommen.“ – „Ja soll denn die ganze Stadt verschandelt werden?“ – „Vielleicht nicht die ganze Stadt. Und auch nicht verschandelt. Vielleicht reicht es, wenn einfach mehr Flächen zur Verfügung stehen, die monatlich neu zum Sprayen freigegeben werden. Das Ganze mit einem Wettbewerb verbinden. Das schafft Raum und verhindert vielleicht ein paar Schmierereien.“ Bolz: „Eine gute Idee, Ron!“ Rosahl: „Hm. Dann machen wir’s so!“ Es sind Gespräche wie diese, die im Dissens sanft vereinen. Rosahl sagt später, er habe nicht gegen Bolz gestimmt. Er höre nur schlecht auf dem rechten Ohr.

Zwischen den Beamtenpalmen sitzen und stehen Kleingruppen und formen Ideen. Sprayerwände. Gehörlosenhilfen. Mehr Schulbücher in Bibliotheken. Mehr Bänke in die Parks. Ein Heimatmuseum als Werbeträger. Identitätsstiftende Orte, all so was. Idee um Idee. Mit Abstand die beste ist für heute Abend bestimmt: die Förderung von Seniorenarbeit mit generationsübergreifendem Ansatz. Auf dem entsprechenden Vorschlagszettel kleben am Ende die meisten Wertungspunkte, das steht ganz oben auf der Liste von Lichtenberg-Nord. Ältere sollen Jungen helfen, Jüngere können Älteren helfen. Das müsste nicht einmal viel kosten. Rons Jugendclub schafft es auf Platz drei. Er will jetzt anpacken. Bolz tut das längst, pflanzt Bäume an der Schule seiner Tochter. Bodo Rosahl hebt eine Heftzwecke vom Boden auf, damit niemand hineintritt. Er will wiederkommen.