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GESELLSCHAFTWesten in der Krise: Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio sucht den AuswegDogma gegen Argument

Das Buch des ehemaligen Verfassungsrichters Udo Di Fabio gehört zu jenen, über deren Verwegenheit man nur staunen kann. Schon die Bezeichnung „Buch“ ist problematisch, denn es handelt sich um eine Textkompilation in 15 Kapiteln von jeweils 15 bis 20 kurzen, thematischen Abschnitten von einer bis vier Seiten.

Diese Kurztexte gehen aufs Ganze und behandeln im Galopp buchstäblich alles, was irgendwie zum ersten Satz – „Das westliche Gesellschaftsmodell ist in der Krise“ – passt und sich irgendwie auf den letzten Satz des Buches – „Es geht um die Wiedergeburt und die Neuerfindung des westlichen Wegs, in gegenseitiger Achtung rechtssicher zu leben“ – reimt. Ein Ableitungsmanöver also.

Bei der Frage, was „der“ Westen“, „die“ Moderne oder „das“ westliche“ Gesellschaftsmodell bedeuten, hält sich der Autor nicht lange auf. Viel mehr als dass Europa, die USA und Japan irgendwie dazugehören, erfährt der Leser nicht. Wichtiger als historische und/oder systematische Abgrenzung ist dem Autor das „Ideensystem Westen“ als „Muster einer Welterklärung“, für die der Soziologe Niklas Luhmann seit Ende der 60er Jahre seine Systemtheorie entwarf. Deren Grundidee besteht darin, dass sich die moderne Gesellschaft als Komplex aus fünf autonomen Funktionssystemen – nämlich Marktwirtschaft, Wissenschaft, Recht, Politik und Erziehung – verstehen lässt. Diese fünf Systeme sollen – zumindest theoretisch – persönliche Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Privateigentum und Vertragsfreiheit garantieren.

Di Fabio räumt jedoch ein, dass sich das westliche Modell in einer „multiplen Dauerkrise“ befindet und dass umstritten bleibt, „ob die Marktwirtschaft wirklich ein unentbehrliches Bauelement westlicher Zivilisation ist“. Trotzdem hält er die Marktwirtschaft für eine Stärke des Westens und sieht in der Kritik daran sogar eine Krisenursache. Vor allem aber habe der Westen – so Di Fabio – seine ökonomischen und politischen Steuerungsressourcen überdehnt, sei seinen „normativen Grundsätzen“ untreu geworden, habe Religion, Familie, Nation, Erziehung und lokale Netzwerke vernachlässigt und sei so immer tiefer in die Krise gerutscht.

Der Autor übersieht freilich das Detail, dass die Dauerkrise auch das empirieferne Glasperlenspiel „Systemtheorie“ in die Krise gestürzt hat. Diese beschwor die Autonomie der Funktionssysteme Wirtschaft, Recht und Politik. Das hat sich als Chimäre erwiesen: Ohne die Hilfe der Politik wäre 2007 vielleicht nicht das Wirtschaftssystem, aber viele Banken wären kollabiert.

Wie schon Luhmann, versucht auch Di Fabio, seine Theorie mit dem Begriff der „strukturellen Kopplung“ zu retten. Dieser Begriff funktioniert wie die Wetterprognose: „Kräht der Hahn auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder es bleibt, wie es ist.“ Strukturelle Kopplung von Wirtschaft und Demokratie bedeutet: Wenn politische Eingriffe das kapitalistische System und die kräftigsten Interessenten stützen, ist die Kopplung richtig, und wenn politische Eingriffe im Namen von Chancengleichheit oder sozialer Gerechtigkeit den starken Interessen am Markt widersprechen, ist sie systemwidrig, also falsch.

Für die realen Machtverhältnisse auf den Märkten hat Di Fabio so wenig Gespür wie für vernünftige Ziele demokratisch legitimierter Politik und soziale Ansprüche. Systemkopplungen von „autonomen“ Funktionssystemen bergen halt – so die systemtheoretische Wetterprognose – Chancen oder Risiken.

Wichtiger als historische und systematische Abgrenzung ist dem Autor das „Ideensystem Westen“

Mit normativen Dogmen füllt Di Fabio seine argumentativen Lücken – etwa mit der Gleichsetzung von „Rationalität der Marktwirtschaft“ und „Naturgesetzen“. „Personale Freiheit“ verklärt Di Fabio zum Passepartout, alle epochalen Ereignisse zwischen dem 14. und dem 20. Jahrhundert zu erklären. Außer mit Dogmen behilft sich Di Fabio mit populären Phrasen, um seine Dogmen zu retten – oft mit „letztlich“ oder in „letzter Konsequenz“: „Letztlich führt die politische Aufhebung der Freiheit des Marktes […] immer zu politischen Machtverlusten“ – zumindest „auf Dauer“.

Das ist nicht etwa „unklar“ gedacht, sondern Ausdruck eines in eine Sackgasse geratenen normativen Dogmatismus von nur noch antiquarischem Interesse. Rudolf Walther

Udo Di Fabio: „Schwankender Westen. Wie sich ein Gesellschaftsmodell neu erfinden muss“. C. H. Beck, München 2015, 272 S., 19,95 Euro

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