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Archiv-Artikel

Zwischen Monstern und Monet

Das Bremer Theater übt mit seinen aktuellen Produktionen den Spagat zwischen kassenträchtigem Kindertheater und avancierter Choreografie. „Aus 1001 Nacht“ beschwört den Orient, während Urs Dietrich in „Flacon“ die Mode tanzen lässt

Die düstere Menge schwingt vor und zurück, bleiche Herren und schwarz verhüllte Frauen trippeln sich zu melancholisch schwelgender Musik in stotterndes Gewoge – bis endlich jemand ausbricht und ein Solo wagt. Urs Dietrich hat sich in „Flacon“, seiner jüngsten Tanztheaterproduktion, dem impressionistischen Aufbruch in die Moderne verschrieben: Die benachbarte Kunsthalle lässt grüßen.

Denn derzeit geht in Bremen offenbar wenig ohne die allgegenwärtige Camille-Pose: den Körper eigentlich zum Gehen gewandt, zugleich den Kopf im Halbprofil dem Publikum zugeneigt. So hat Claude Monet seine Freundin in einem stilbildenden Porträt verewigt, so laufen jetzt auch Urs Dietrichs Tänzerinnen über die Bretter des Schauspielhauses. Gewandet im Tuch der Zeit, also mit bodenlangen Röcken und – kleiner Geck – offen getragenen Gesäßpolstern, mühen sie sich um (Tanz-)Spielräume, die Hände zwischen Ringen und Beschwörungsformel gespreizt. Dietrich zeigt eine sich in Bewegung setzende Gesellschaft, weg von höfisch anmutender Etikette, hin langsam entstehenden individuellen Paarbeziehungen. „Flacon“ ist auffällig filmisch angelegt, mit stummer Gestik und geradezu chronologischem Entwicklungsverlauf, der nicht zuletzt an immer moderner werdenden Kostümen ablesbar ist. Schließlich war Dietrich selbst mal Modedesigner.

Weiter im Impressionismus-Plot: die Entdeckung der Natur als Ort der künstlerischen Betätigung. Vor dem Bild einer riesigen, sonnenerleuchteten Pinie tanzt Kiri Haardt in ebenso leuchtend roter Robe ein emphatisches Solo, dessen Ästhetik einem colorierten Farbfoto gleicht: altmodisch und poppig zugleich.

Insgesamt ist Dietrichs „Tanz die Camille“-Versuch in Gefahr, zu gefällig zu wirken. Da hilft auch nicht, dass der Choreograf sein Ensemble in gewohnter Manier als Rollkommando aus dem Off marschieren lässt, um Soli und Duette zu beenden, also von der Menge re-homogenisieren zu lassen – die Brutalität der Geste nutzt sich ab. Neu ist Dietrichs Lust am selbst gedrehten Film, der per Projektion als Bühnenbild dient: Bäume, Wasser, später sind es Trümmerfelder. Benetton macht ähnliche Kampagnen.

Henning Bleyl

Die nächsten Aufführungen: 4. und 17. November (jeweils 20 Uhr) im Schauspielhaus am Goetheplatz.

Bei manchen dauert die Gesprächstherapie eben etwas länger: Sultan Schahriar als chronifizierter Aggressor braucht bekanntlich 1.001 Nächte, bis ihn die wortgewandte Scheherazade vom anti-feministischen Wahn befreit. Das Bremer Theater hat aus diesem Mammut-Unterfangen nun ein zweistündiges Stück komprimiert (inklusive Pause) – was für Kinder ab sechs Jahren ja auch wieder eine beachtliche Länge darstellt.

570 SchülerInnen also sitzen im Waldautheater, um Irmgard Paulis’ Märchenfassung anzusehen. Das Bremer Theater hat den wegen Insolvenz leer stehenden Bau angemietet, um hier bis Januar sein Weihnachtsmärchen zu zeigen. „Der Sultan haut allen Frauen den Kopf ab, weil ihn eine mal betrogen hat“, erzählt eine Fünftklässlerin vom Schulzentrum Habenhausen – dort wurde der Besuch im Unterricht vorbesprochen. Ist das eine gute Geschichte? „Klar!“ Worauf die Mädchen offenbar allerdings nicht vorbereitet sind, ist der arabeske Realismus, mit der Paulis den Soff auf die Bühne bringt. „Ihh, der hat sich ausgezogen!“, gellt es von rechts, als sich einer der Schauspieler flugs in einen Sklaven verwandelt.

Das ist dann auch noch der, in dessen Armen die erste Sultanin ihren Gemahl betrügt – wodurch die Kopf-ab-Orgie in Gang gesetzt wird. „Frauen sind so falsch wie die Hölle“, verkündet der gehörnte Potentat. Angesichts der – in Punkto Nachwuchs – farbig ausgemalten „Hauptsache Sohn“-Thematik und Sätzen wie „das Mädchen hat genauso schnell gelernt wie seine Brüder“, müssen sich die Habenhauser Mädchen umso stärker mit Scheherezade identifizieren, die letztlich ja auch Siegerin bleibt. Ihr Trick: Als Urmutter von „Dallas“ und „Lindenstraße“ erfindet sie das Prinzip des Fortsetzungsromans, das den Sultan in seinen beruhigenden Bann zieht.

Die Kinder erleben ein aus dem Vollen schöpfendes Theater, eine Bühne voller Menschen, eine opulente Ausstattung, vier (hervorragenden) Musikern rechts und links vor der Bühne und Gesangseinlagen – die allerdings deutlich hinter der Qualität der letztjährigen Hauff-Inszenierung zurückbleiben. Das „Steinerne Herz“ bestach durch die Komik der wunderbar choreografierten Nebenfiguren, auch die Hauptcharaktere waren schärfer gezeichnet als bei „Aus 1001 Nacht“. Nichtsdestotrotz häufen sich gegen Ende die spontanen Szenenapplause, jede weitere glückliche Fügung der Geschichte wird mit Ovationen bedacht.

Henning Bleyl

Die nächsten Termine: 4.11. um 18 Uhr und 6.11. um 15 Uhr im Waller Waldautheater. Karten: ☎ 0421/365 33 33.